Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
beendet und arbeitete auf dem Telegrafenamt. Auf dem Zentralen Telegrafenamt. Die Leute stehen vorm Schalter: Die eine weint – ihre Mutter ist gestorben, eine andere lacht – sie feiert Hochzeit. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Zur goldenen Hochzeit! Telegramme über Telegramme. Ich verbinde mit Wladiwostok, mit Ust-Kut, mit Aschchabad … Eine schöne Arbeit. Nicht langweilig. Und ich wartete auf die Liebe … mit achtzehn wartet jeder auf die Liebe … Ich dachte, die Liebe kommt nur einmal, und dass es die Liebe ist, weißt du sofort. Aber es war komisch, sehr komisch. Es gefiel mir ganz und gar nicht, wie wir uns kennenlernten. Eines Morgens gehe ich an der Wache vorbei – alle kannten mich schon, nie wollte einer meinen Ausweis sehen: »Hallo« – »Hallo«, und das war’s –, da heißt es plötzlich: »Ihren Betriebsausweis bitte!« Ich war verblüfft. Vor mir steht ein großer, hübscher Bursche und lässt mich nicht rein. »Sie sehen mich doch jeden Tag …« »Zeigen Sie Ihren Ausweis.« Und ich hatte den Ausweis an diesem Tag vergessen – ich kramte in meiner Tasche – keine Papiere. Mein Chef wurde gerufen, und ich bekam eine Rüge … War ich wütend auf diesen Burschen! Und er … Ich hatte Nachtschicht, da kommt er mit einem Freund vorbei, Tee trinken. So was! Sie hatten Piroggen mit Marmelade mitgebracht, solche gibt’s heute gar nicht mehr – die schmeckten! Aber man traute sich kaum, reinzubeißen – man weiß ja nie, auf welcher Seite die Marmelade rausquillt. Haben wir gelacht! Aber mit ihm hab ich nicht geredet, auf ihn war ich sauer. Ein paar Tage später kommt er nach der Arbeit und fragt: »Ich hab Kinokarten gekauft – kommst du mit?« Karten für meine Lieblingskomödie, Mimino mit Wachtang Kikibadse in der Hauptrolle, ich hatte den Film schon zehnmal gesehen und kannte den ganzen Text auswendig. Er auch, wie sich herausstellte. Wir liefen die Straße entlang und warfen uns Zitate zu:»Ich sag dir jetzt mal einen klugen Gedanken, aber nimm’s mir nicht übel.« »Wie soll ich diese Kuh verkaufen, wo sie hier jeder kennt?« Ja … so begann die Liebe … Sein Cousin hatte große Gewächshäuser, er handelte mit Blumen. Abulfas brachte mir jedes Mal Rosen mit – weiße, gelbe, rote … blaue und schwarze … Es gibt sogar lila Rosen, sie sehen aus wie gefärbt, sind aber echt. Ich hatte geträumt … ich hatte oft von der Liebe geträumt, aber ich hatte nicht gewusst, dass mein Herz so heftig schlagen kann, als wollte es aus der Brust springen. Auf den nassen Strand schrieben wir … in den Sand … mit großen Buchstaben: »Ich liebe dich!«, und zehn Meter weiter noch einmal: »Ich liebe dich!« Damals standen überall in der Stadt Mineralwasser-Automaten, mit einem Glas für alle. Das hat man ausgespült und dann benutzt. Wir hin zu einem Automaten – kein Glas da, und im nächsten Automaten auch nicht. Und ich hatte solchen Durst! Wir hatten so viel gesungen, geschrien und gelacht am Meer – ich hatte Durst! Lange passierten uns Wunderdinge, ganz unglaubliche Sachen, aber irgendwann nicht mehr. Oh, ich kenne das … Wirklich! »Abulfas, ich habe Durst! Mach doch irgendwas!« Er sieht mich an, hebt die Arme zum Himmel und redet und redet, ganz lange. Und plötzlich kommt von irgendwoher … aus dem hohen Gras vor den Zäunen und den geschlossenen Kiosken, da taucht ein Betrunkener auf und reicht mir ein Glas: »Einem schönen Mädchen geb ich’s gern.«
Und dieser Sonnenaufgang … Weit und breit keine Menschenseele, nur wir beide. Und Nebel vom Meer her. Ich laufe barfuß über den Asphalt, vom Asphalt steigt Nebel auf, wie Dampf. Und wieder ein Wunder! Plötzlich geht die Sonne auf! Ein Licht … eine Helligkeit wie mitten an einem Sommertag … Im Nu trocknet mein leichtes Sommerkleid am Leib, das feucht ist vom Tau und vom Nebel. »Du bist so wunderschön jetzt!« Und du … du … (Sie hat Tränen in den Augen.) Zu anderen sage ich immer, sie sollen nicht weinen … Aber selber … Alle Erinnerungen kommen wieder hoch … Erinnerungen … Aber jedes Mal sind es weniger Stimmen … und weniger Träume … Damals träumte ich … Ich flog … Nur … Nein …! Es gab für uns kein Happy End: weißes Kleid, Mendelssohns Hochzeitsmarsch, Ringe … Hochzeitsreise … Bald, sehr bald … (Sie hält inne.) Ich wollte etwas sagen … Etwas … Ich vergesse schon die einfachsten Worte … Ich wollte sagen, schon bald, sehr bald … Da wurde ich in Kellern versteckt,
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