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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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gibt einen Moment … Bei der Hochzeit gibt es einen Moment, da stehen die Verwandten der einen Seite auf und verneigen sich vor den Verwandten der anderen Seite und umgekehrt. Abulfas stand allein auf … als wäre er eine Waise. Ich bringe dir ein Kind zur Welt, dann bist du nicht mehr allein, dachte ich. Wie einen Schwur. Er wusste – das hatte ich ihm schon vor langer Zeit gestanden –, dass ich in meiner Jugend schwer krank gewesen war und dass das Urteil der Ärzte lautete: Sie darf keine Kinder kriegen. Auch das hat er akzeptiert, Hauptsache, wir waren zusammen. Aber ich … Ich entschied: Ich werde ein Kind bekommen. Selbst wenn ich dabei sterben sollte, aber das Kind wird bleiben.
    Mein Baku …
    das Meer … das Meer … das Meer …
    die Sonne … die Sonne … die Sonne …
    Nicht mehr mein Baku …
    … keine Türen im Hauseingang, die Löcher mit Zellophan verhängt …
    … Männer oder Jugendliche, vor Entsetzen habe ich das nicht genau behalten … prügeln mit Pfählen (wo haben sie die in unserer Stadt bloß aufgetrieben?) eine Frau zu Tode … sie liegt auf dem Boden, ohne jeden Laut. Leute sehen das – und wechseln auf die andere Straßenseite. Wo ist die Miliz? Die Miliz ist verschwunden … tagelang sah ich keinen einzigen Milizionär auf der Straße … Abulfas hält es zu Hause kaum noch aus, ihm wird übel. Er ist ein guter Mensch, sehr gutherzig. Aber woher kamen die … dort draußen, auf der Straße …? Ein Mann kommt uns entgegengerannt, voller Blut … Mantel und Hände sind voller Blut … in den Händen hält er ein riesiges Küchenmesser, mit dem man Kräuter hackt … Sein Gesicht wirkt triumphierend, ja, glücklich … »Den kenne ich«, sagt ein kleines Mädchen aus der Nachbarschaft, das mit uns an der Haltestelle auf den Bus wartet.
    … irgendetwas in mir ist damals verlorengegangen … irgendetwas in mir existiert nicht mehr …
    … Meine Mutter kündigte … Es war zu gefährlich für sie, auf die Straße zu gehen, sie wurde sofort als Armenierin erkannt. Ich nicht. Aber ich durfte keine Papiere bei mir tragen. Keine! Wenn Abulfas mich von der Arbeit abholte und wir zusammen nach Hause gingen, ahnte niemand, dass ich Armenierin bin. Aber jeder konnte verlangen: »Zeig mal deinen Ausweis!« »Versteckt euch. Geht fort«, mahnten unsere Nachbarn, russische Omas. Die jungen Russen gingen fort, ließen ihre Wohnungen zurück, ihre guten Möbel. Nur die Omas blieben … freundliche russische Omas …
    … Ich war schon schwanger … Ich trug ein Kind unterm Herzen …
    Das Töten in Baku dauerte mehrere Wochen … sagen die einen, andere sagen, noch länger … Sie töteten nicht nur Armenier, sondern auch diejenigen, die Armenier versteckten. Mich versteckte eine aserbaidschanische Freundin, und sie hatte Familie – einen Mann und zwei Kinder. Irgendwann einmal … Das schwöre ich! Da werde ich nach Baku fahren, zusammen mit meiner Tochter, und in dieses Haus gehen. »Das hier ist deine zweite Mutter, mein Kind.« Vorhänge, dick wie Decken … wie ein Mantel, solche Vorhänge … Die haben sie extra meinetwegen genäht. Nachts kam ich vom Dachboden herunter … für ein, zwei Stunden. Wir unterhielten uns flüsternd, sie mussten mit mir reden. Sie wussten, dass man mit mir sprechen musste, damit ich nicht stumm wurde, nicht verrückt. Damit ich mein Kind nicht verlor und nachts nicht heulte … Wie ein wildes Tier …
    Ich erinnere mich an unsere Gespräche, ich erinnere mich gut. Den ganzen Tag saß ich auf dem Dachboden und ging sie in Gedanken wieder und wieder durch. Ich war ganz allein … Ein schmaler Streifen Himmel … durch einen Spalt …
    »… Den alten Lasar haben sie auf der Straße angehalten und auf ihn eingeprügelt … ›Ich bin Jude‹, sagte er flehend. Bis sie seinen Ausweis gefunden hatten, schlugen sie ihn zum Krüppel …«
    »… Sie töten für Geld und einfach so … Sie suchen besonders nach Häusern, in denen reiche Armenier wohnen …«
    »… In einem Haus haben sie alle getötet … Doch das kleinste Mädchen war auf einen Baum geklettert … Sie schossen auf sie wie auf einen Vogel … Nachts sieht man schlecht, sie trafen lange nicht … Sie wurden wütend … und zielten immer wieder … Bis sie ihnen vor die Füße fiel …«
    Der Mann meiner Freundin war Maler. Ich mochte seine Bilder, er malte Frauenporträts und Stillleben. Und ich erinnere mich, wie er zu den Bücherregalen ging und auf die Buchrücken klopfte. »Das müsste man

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