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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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wohnte auf Dachböden, verwandelte mich in eine Katze … in eine Fledermaus … Wenn Sie verstehen könnten … wenn Sie … wenn Sie wüssten, wie schrecklich es ist, wenn in der Nacht jemand schreit. Ein einsamer Schrei. Selbst wenn ein Nachtvogel schreit, ist es schaurig. Und wenn ein Mensch schreit? Ein einziger Gedanke hielt mich am Leben: Ich liebe … ich liebe, ja, ich liebe. Anders hätte ich es nicht geschafft, nicht ausgehalten. Es war so schrecklich! Nur nachts kam ich vom Dachboden herunter … die Vorhänge waren dick wie eine Decke … Eines Morgens wurde der Dachboden geöffnet: »Komm raus! Du bist gerettet!« Russische Truppen waren in die Stadt gekommen …
    Ich denke nach … Sogar im Traum denke ich darüber nach – wann hat das alles angefangen? 1988 … Auf dem Platz versammelten sich Leute, alle in Schwarz, sangen und tanzten. Sie tanzten mit Messern und Dolchen. Das Telegrafengebäude ist gleich nebenan, alles spielte sich vor unseren Augen ab. Wir standen dicht gedrängt auf dem Balkon und schauten. »Was rufen sie?«, fragte ich. »Tod den Ungläubigen! Tod!« Das ging lange so, sehr lange … viele Monate … Wir wurden von den Fenstern weggescheucht: »Das ist gefährlich, Mädchen. Bleibt auf eurem Platz sitzen und lasst euch nicht ablenken. Arbeitet weiter.« In der Mittagspause tranken wir gewöhnlich alle zusammen Tee, aber eines Tages setzten sich die Aserbaidschanerinnen an einen Tisch, die Armenierinnen an einen anderen. Urplötzlich, verstehen Sie? Ich verstand das nicht, überhaupt nicht. Ich begriff noch gar nichts … Ich liebte … ich war mit meinen Gefühlen beschäftigt … »Mädels! Was ist denn los?« »Hast du nicht gehört? Der Chef hat gesagt, bald werden bei ihm nur noch reinblütige Musliminnen arbeiten.« Meine Großmutter hat den Armenierpogrom 1915 überlebt … Ich erinnere mich … Als ich noch ein Kind war, hat sie mir davon erzählt: »Als ich so klein war wie du, wurde mein Papa getötet. Auch meine Mama und meine Tante. Und alle unsere Schafe …« Großmutters Augen waren immer traurig. »Die Nachbarn haben sie getötet … Ganz normale Menschen waren das bis dahin gewesen, gute Menschen sogar. An Feiertagen hatten alle zusammen Wein getrunken …« Ich dachte: Das ist lange her … wie kann so etwas heute geschehen? Ich fragte meine Mutter: »Mama, hast du gesehen, die Jungs auf dem Hof spielen nicht mehr Krieg, sie spielen Armenier abstechen. Von wem haben sie das?« »Sei still, Tochter. Wenn das die Nachbarn hören.« Mama weinte die ganze Zeit. Saß da und weinte. Die Kinder schleppten eine Strohpuppe über den Hof und traktierten sie mit Stöcken und mit Kinderdolchen. »Wer ist das?«, fragte ich den kleinen Orchan, den Enkel von Mamas Freundin Seinab. »Das ist eine armenische Oma. Wir töten sie. Was bist du eigentlich, Tante Rita? Warum hast du einen russischen Namen?« Meinen Namen hat meine Mutter ausgesucht … Meine Mutter liebte russische Namen und träumte ihr Leben lang davon, einmal Moskau zu sehen … Mein Vater hat uns verlassen, er lebte mit einer anderen Frau zusammen, aber er blieb mein Vater. Ich ging zu ihm mit meiner Neuigkeit: »Papa, ich heirate!« »Ist er ein guter Junge?« »Sehr. Aber er heißt Abulfas …« Vater schwieg, er wollte, dass ich glücklich bin. Doch ich liebte einen Muslim … er hat einen anderen Gott … Vater schwieg.Und dann kam Abulfas zu uns nach Hause. »Ich möchte um deine Hand anhalten.« »Aber warum kommst du allein, ohne Brautwerber? Ohne Verwandte?« »Sie sind alle dagegen, aber ich brauche niemanden außer dir.« Ich auch nicht … Ich brauche auch niemanden sonst. Was sollen wir machen mit unserer Liebe?
    Um uns herum sah es ganz anders aus als in uns … Ganz anders … völlig anders … Nachts war es beängstigend still in der Stadt … Menschenleer … Was ist das nur, ich kann so nicht leben. Was ist das nur – schrecklich! Am Tag lachen und scherzen die Menschen nicht und kaufen keine Blumen mehr. Früher sah man auf der Straße immer Leute mit Blumen. Überall Menschen, die sich küssten. Und jetzt … Dieselben Menschen … gehen aneinander vorbei und schauen sich nicht an … Irgendetwas schwebt über allem und allen … eine Erwartung …
    Ich erinnere mich heute nicht mehr genau … Es veränderte sich von Tag zu Tag … Heute weiß jeder Bescheid über Sumgaït … von Baku bis Sumgaït sind es dreißig Kilometer … Dort war der erste Pogrom … Bei uns arbeitete ein Mädchen

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