Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
aus Sumgaït, und nun blieb sie, wenn alle nach der Schicht nach Hause gingen, auf dem Telegrafenamt. Übernachtete in einem Abstellraum. Sie lief ganz verweint herum, ging nicht mal kurz auf die Straße hinaus, sprach mit niemandem mehr. Wenn wir sie etwas fragten, schwieg sie. Doch als sie anfing zu reden … als sie erzählte … Ich wollte sie nicht hören … Nichts hören! Nichts davon hören! Nein, was war das nur! Nein, was war das nur, was war das! »Was ist mit deinem Haus?« »Mein Haus wurde geplündert.« »Und deine Eltern?« »Mama haben sie auf den Hof hinausgeführt, sie nackt ausgezogen und aufs Feuer … Und meine schwangere Schwester musste um das Feuer herumtanzen … Und als sie sie getötet hatten, kratzten sie mit Eisenstangen das Baby aus ihr heraus …« »Sei still! Sei still!« »Meinen Vater haben sie gespalten … mit einer Axt … Die Verwandten haben ihn nur an seinen Schuhen erkannt …« »Sei still! Ich bitte dich!« »Die Männer sammelten sich, junge und alte, immer zwanzig, dreißig Mann, und drangen in die Häuser ein, wo armenische Familien lebten. Sie töteten und vergewaltigten – die Tochter vor den Augen des Vaters, die Frau vor den Augen ihres Mannes …« »Sei still! Weine lieber.« Aber sie weinte nicht … so groß war ihre Angst … »Sie haben Autos angezündet … Auf dem Friedhof haben sie Grabsteine mit armenischen Namen umgestürzt … sie hassten sogar die Toten …« »Sei still! Ist denn so etwas möglich unter Menschen?!« Wir hatten plötzlich alle Angst vor ihr. Und im Fernsehen, im Radio und in den Zeitungen – kein Wort über Sumgaït … Nur Gerüchte … Ich wurde später oft gefragt: »Wie habt ihr gelebt? Wie habt ihr nach alldem weitergelebt?« Der Frühling kam … Die Frauen zogen leichte Kleider an … Die ersten Früchte reiften … Ein solches Grauen … und ringsum war alles so schön … Verstehen Sie? Und das Meer …
Ich wollte also heiraten … Mama bat: »Töchterchen, überleg es dir.« Vater schwieg. Ich gehe mit Abulfas die Straße entlang, wir treffen seine Schwestern. »Warum hast du gesagt, sie sei hässlich? Schau nur, was für ein hübsches Mädchen.« So flüsterten sie miteinander. Abulfas! Abulfas! Ich bat ihn: »Lass uns ohne Hochzeit heiraten, wir feiern keine Hochzeit.« »Wie stellst du dir das vor? Bei uns heißt es, das Leben eines Menschen besteht aus drei Tagen: dem Tag, an dem du geboren wirst, dem Tag, an dem du heiratest, und dem Tag, an dem du stirbst.« Für ihn ging es nicht ohne Hochzeit: ohne Hochzeit kein Glück. Seine Eltern waren entschieden dagegen … entschieden! Sie gaben ihm kein Geld für die Hochzeit, nicht einmal das, was er selbst verdient hatte. Aber alles sollte dem Brauch entsprechen … den alten Bräuchen … Die aserbaidschanischen Bräuche sind schön … ich mag sie … Beim ersten Mal kommen Brautwerber ins Haus der Braut und werden nur angehört, am zweiten Tag erhalten sie dann die Zustimmung oder Ablehnung. Dann wird Wein getrunken. Ein weißes Kleid und einen Ring zu kaufen ist Sache des Bräutigams, er bringt sie ins Haus der Braut, und zwar am Morgen … an einem sonnigen Tag … um das Glück günstig zu stimmen und die finsteren Mächte abzuwenden. Die Braut nimmt die Gaben entgegen und dankt dem Bräutigam, küsst ihn vor aller Augen. Um die Schultern trägt sie ein weißes Tuch – als Zeichen der Reinheit. Und dann die Hochzeit! Der Tag der Hochzeit! Von beiden Seiten werden viele Geschenke gebracht, ein Berg von Geschenken, sie liegen auf großen, mit roten Bändern umwundenen Tabletts. Außerdem werden Hunderte Luftballons aufgeblasen, sie schweben mehrere Tage lang über dem Haus der Braut, und je länger sie dort schweben, desto besser, das bedeutet, die Liebe ist stark und beiderseitig.
Meine Hochzeit … unsere … Alle Geschenke … von Seiten des Bräutigams und von Seiten der Braut … hat meine Mutter gekauft … Auch das weiße Kleid und den goldenen Ring … An der Tafel müssen die Verwandten der Braut vor dem ersten Trinkspruch aufstehen und das Mädchen preisen, und die Verwandten des Bräutigams preisen den jungen Mann. Für mich hat mein Großvater die Rede gehalten, und als er fertig war, fragte er Abulfas: »Und wer legt ein gutes Wort für dich ein?« »Ich selbst. Ich liebe eure Tochter. Ich liebe sie mehr als mein Leben …« Wie er das sagte, gefiel allen. Sie warfen Münzen vor unsere Türschwelle und Reis … für Glück und Reichtum … Und da … Es
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