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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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alles verbrennen! Verbrennen! Ich glaube nicht mehr an Bücher! Wir haben geglaubt, das Gute würde siegen – von wegen! Wir haben über Dostojewski gestritten … Dabei sind seine Figuren immer da! Mitten unter uns. Hier!« Ich verstand nicht, wovon er sprach, ich war ein schlichtes, einfaches Mädchen. Ich habe nicht studiert. Ich konnte nur weinen … und Tränen abwischen … Ich glaubte lange, dass ich im besten Land der Welt lebte, unter den allerbesten Menschen. So hat man es uns in der Schule beigebracht. Aber er litt schrecklich, er litt sehr unter alldem. Er bekam einen Schlaganfall, danach war er gelähmt … (Sie hält inne.) Ich muss kurz schweigen … Ich zittere so … (Nach ein paar Minuten redet sie weiter.) Dann kamen russische Truppen in die Stadt … Ich konnte wieder nach Hause … Er war schon bettlägerig, nur einen Arm konnte er noch ein bisschen bewegen. Er schlang diesen Arm um mich und sagte: »Ich habe die ganze Nacht nachgedacht, Rita, über dich und über mein Leben. Viele Jahre … Mein Leben lang habe ich gegen die Kommunisten gekämpft. Aber nun habe ich Zweifel: Würden wir doch noch immer von diesen alten Mumien regiert, sollten sie sich doch gegenseitig Heldensterne an die Brust heften, würden wir eben nicht ins Ausland fahren, keine guten Bücher lesen und keine Pizza essen– die Speise der Götter. Aber jenes kleine Mädchen … sie wäre noch am Leben, keiner hätte sie abgeschossen … Wie einen Vogel … Und du hättest nicht auf dem Dachboden sitzen müssen wie eine Maus …« Er ist bald darauf gestorben … kurz danach … Viele sind damals gestorben … gute Menschen sind gestorben. Sie konnten das alles nicht ertragen.
    Auf den Straßen überall russische Soldaten. Kriegsgerät. Die russischen Soldaten … blutjunge Kerle … sie fielen in Ohnmacht von dem, was sie sahen …
    Ich war im achten Monat schwanger … Kurz vor der Geburt. Eines Nachts ging es mir schlecht, und wir riefen beim Notdienst an – als sie meinen armenischen Namen hörten, legten sie auf. Auch in der Entbindungsklinik nahmen sie mich nicht, weder in meinem Wohnbezirk noch woanders … Sie schlugen meinen Ausweis auf, und sofort hieß es: Kein Bett frei. Kein Platz! Nirgends, nichts zu machen! Mutter machte eine alte Hebamme ausfindig, eine Russin, die sie vor Jahren entbunden hatte … vor langer Zeit … Sie fand sie in einem Dorf am Stadtrand. Sie hieß Anna … an ihren Vatersnamen erinnere ich mich nicht. Sie kam einmal in der Woche zu uns nach Hause, untersuchte mich und sagte, es würde eine schwere Geburt werden. Eines Nachts setzten die Wehen ein … Abulfas lief nach einem Taxi, per Telefon kam er nicht durch. Das Taxi kam, der Taxifahrer sah mich: »Was – eine Armenierin?« »Sie ist meine Frau.« »Nein, ich fahre nicht.« Mein Mann fing an zu weinen. Er zog seine Brieftasche hervor und zeigte dem Taxifahrer das Geld, sein gesamtes Gehalt. »Hier … Ich geb dir alles … Rette meine Frau und mein Kind.« Wir fuhren … alle zusammen … Auch meine Mutter kam mit. Wir fuhren in den Ort, wo Anna wohnte, in das Krankenhaus, wo sie eine halbe Stelle hatte, als Zubrot zur Rente. Sie erwartete uns schon, und ich kam sofort in den Kreißsaal. Die Geburt dauerte lange … sieben Stunden … Wir waren zwei Gebärende – ich und eine Aserbaidschanerin; es gab nur ein Kissen, und das gab man ihr, mein Kopf lag ganz flach. Das war sehr unbequem und tat weh. Meine Mutter stand an der Tür … Sie wollten sie wegschicken, aber sie ging nicht … Wenn sie nun das Kind entführten … wer weiß? Alles war möglich … damals war alles möglich … Ich habe ein Mädchen geboren … Sie zeigten es mir einmal, dann brachten sie es nicht mehr zu mir. Die anderen Mütter (Aserbaidschanerinnen) bekamen ihre Kinder zum Stillen, ich nicht. Ich wartete zwei Tage. Und dann … immer an der Wand entlang … ich hielt mich an der Wand fest und schleppte mich bis zu dem Zimmer, wo die Kinder lagen. Kein einziges Kind war da, nur mein kleines Mädchen, und Türen und Fenster standen sperrangelweit offen. Ich fasste sie an – sie glühte, sie war ganz heiß. In dem Moment kam meine Mutter … »Komm, Mama, wir nehmen die Kleine und gehen. Die Kleine ist schon krank.«
    Meine Tochter war lange krank. Ein alter Arzt behandelte sie, er war schon lange in Rente. Er war Jude. Aber er machte Hausbesuche bei armenischen Familien und half ihnen. »Die Armenier werden getötet, weil sie Armenier sind, wie man einst die

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