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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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gelandet – bei einer betrunkenen Prügelei war ein anderer Junge erstochen worden. Er hatte fünf Jahre bekommen, nach dreien war er wieder draußen. Er besuchte uns oft, brachte Geschenke. Wenn seine Mutter meine Schwester traf, redete sie auf sie ein, bat für ihren Sohn. Sie sagte: »Ein Mann braucht immer ein Kindermädchen. Eine gute Ehefrau ist ihrem Mann immer ein bisschen eine Mutter. Allein wird ein Mann zum Wolf … da isst er bald vom Fußboden …« Meine Schwester glaubte ihr! Sie ist eine mitfühlende Seele, genau wie ich. »Bei mir wird er ein Mensch werden.« Ich saß mit den beiden eine ganze Nacht am Sarg meiner Mutter. Er war so lieb zu meiner Schwester, so zärtlich, ich habe sie sogar beneidet. Zehn Tage später kam ein Telegramm: »Tante Toma, kommen Sie. Mama ist gestorben. Anja.« Das hatte ihre Kleine geschickt, sie war elf. Kaum hatten wir einen Sarg aus dem Haus getragen, stand schon der zweite da … (Sie weint.) Er hatte ihr betrunken eine Eifersuchtsszene gemacht. Hat sie getreten und mit einer Gabel erstochen. Und die Tote vergewaltigt … Er war besoffen oder bekifft … keine Ahnung … Am nächsten Morgen sagte er auf seiner Arbeit, seine Frau sei gestorben, und bekam Geld für die Beerdigung. Das gab er seiner Tochter, er selber ging zur Miliz und zeigte sich an. Die Kleine lebt jetzt bei mir. Lernen mag sie nicht, mit ihrem Kopf stimmt was nicht, sie kann sich nichts merken. Sie ist sehr ängstlich … traut sich nicht aus dem Haus … Und er … Er wurde zu zehn Jahren verurteilt, er wird noch zu seiner Tochter zurückkommen. Der liebe Papa!
    Nach der Scheidung von meinem ersten Mann dachte ich, nie wieder sollte mir ein Mann ins Haus kommen. Keiner! Ich hatte genug davon, dauernd zu heulen und mit blauen Flecken rumzulaufen. Die Miliz? Die kommen einmal, wenn man anruft, beim nächsten Mal sagen sie: »Das ist Ihre Familienangelegenheit.« Einen Stock höher … in unserem Haus … Da hat ein Mann seine Frau erschlagen, da kamen sie an – mit Blaulicht auf den Autos, haben ein Protokoll aufgesetzt und den Mann in Handschellen abgeführt. Aber davor hat er seine Frau zehn Jahre lang misshandelt … (Sie schlägt sich an die Brust.) Ich mag die Männer nicht. Ich habe Angst vor ihnen. Wie ich zum zweiten Mal heiraten konnte, verstehe ich selber nicht. Er war aus Afghanistan heimgekehrt, mit einer Kopfverletzung, zweimal verwundet. Fallschirmjäger! Das gestreifte Soldatenunterhemd trägt er noch heute. Er wohnte mit seiner Mutter im Haus gegenüber. Er saß oft auf dem Hof, spielte Ziehharmonika oder ließ einen Kassettenrecorder laufen. Ganz traurige Afghanistan-Lieder … Ich dachte oft an den Krieg … ich hatte immer Angst vor diesem verfluchten Atompilz … Es gefiel mir, wenn junge Paare, Braut und Bräutigam, nach dem Standesamt mit Blumen zum Ewigen Feuer gingen. Das liebte ich! Das war so feierlich! Einmal setzte ich mich zu ihm auf die Bank und fragte ihn: »Was ist Krieg?« »Krieg, das ist, wenn man leben will.« Er tat mir leid. Er hatte nie einen Vater gehabt, seine Mutter war von Kindheit an behindert. Hätte er einen Vater gehabt, wäre er nicht nach Afghanistan geschickt worden. Ein Vater hätte sich für ihn eingesetzt, hätte ihn freigekauft, wie andere. Aber er und seine Mutter … Als ich in ihre Wohnung kam … In seinem Zimmer gab es nur ein Bett und Stühle, an der Wand eine Afghanistan-Medaille. Ich hatte Mitleid mit ihm, an mich selber dachte ich nicht. Wir zogen zusammen. Mit einem Handtuch und einem Löffel zog er zu mir. Seine Medaille brachte er auch mit. Und die Ziehharmonika.
    Ich habe mir eingeredet … mir zusammenphantasiert, er sei ein Held … ein Verteidiger … Ich habe ihm eine Krone aufgesetzt und auch den Kindern erzählt, er sei ein König. Wir leben mit einem Helden zusammen! Er hat seine Soldatenpflicht erfüllt und sehr gelitten. Ich wollte ihm Wärme geben … ihn retten … Mutter Theresa! Ich bin nicht tief gläubig, ich bitte immer nur: »Herr, vergib uns.« Liebe, das ist so ein Kummer … Man hat Mitleid … wenn man liebt, hat man Mitleid … Das Erste … Im Schlaf »rannte« er: Seine Beine lagen still, aber die Muskeln waren in Bewegung wie bei jemandem, der läuft. Manchmal lief er die ganze Nacht. Und schrie: » Duschary, Duschary! « (So nannten sie die Duchi , die afghanischen Mudschaheddin.) Er rief nach seinem Kommandeur, nach seinen Freunden: »Von der Flanke her umgehen!«, »Granaten einsatzbereit!«,

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