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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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ihr Seelenheil hast du sie aufgestellt. Um den Tod deiner Kinder hast du gebetet. Du hast gedacht, wenn du sie Gott opferst, bleibst du selbst am Leben.« Nach diesen Worten blieb ich nie mehr mit meiner Mutter allein. Ich zitterte vor Angst. Ich wusste, dass ich schwach bin, dass sie mich besiegen würde … Ich nahm immer meine älteste Tochter mit, und Mutter wurde wütend, wenn die Kleine etwas zu essen haben wollte: Sie lag im Sterben, und ein anderer aß etwas, würde weiterleben. Mit einer Schere zerschnitt sie den neuen Bettüberwurf und die Tischdecke, damit niemand sie bekam, wenn sie nicht mehr war. Sie zerschlug Teller; alles, was sie konnte, zerstörte und zertrümmerte sie. Ich schaffte es nie, sie zur Toilette zu tragen – sie machte absichtlich auf den Boden, ins Bett … damit ich das saubermachen musste … Sie rächte sich dafür, dass wir weiterleben würden. Dass wir herumliefen, uns unterhielten. Sie hasste alle! Wenn ein Vogel am Fenster vorbeiflog, hätte sie auch den am liebsten umgebracht. Es war Frühling … Ihre Wohnung lag im Erdgeschoss … Der Flieder duftete wie verrückt … Sie atmete den Duft ein, konnte nicht genug davon kriegen. »Hol mir einen Zweig von draußen«, bat sie mich. Ich brachte ihn ihr … Sie nahm ihn in die Hand, und er vertrocknete augenblicklich, rollte die Blätter ein. Da sagte sie zu mir: »Gib mir deine Hand …« Doch die weise Frau hatte mir gesagt, ein Mensch, der Böses getan hat, sterbe lange und qualvoll. Man müsse entweder die Zimmerdecke aufmachen oder alle Fenster rausnehmen, sonst könne die Seele nicht hinaus, könne den Körper nicht verlassen. Und man dürfe dem Sterbenden auf keinen Fall die Hand geben – dann würde die Krankheit auf einen selbst übergehen. »Wieso willst du meine Hand halten?« Sie schwieg, zog sich zurück. Es ging schon zu Ende … Trotzdem verriet sie uns nicht, wo die Kleider waren, in denen sie begraben werden wollte. Und wo das Geld lag, das sie für die Beerdigung gespart hatte. Ich hatte Angst, sie könnte meine Tochter und mich in der Nacht mit einem Kissen ersticken. Wer weiß … Ich schloss die Augen nur halb und schaute: Wie wird ihre Seele sie verlassen? Wie sah sie aus … diese Seele? War es ein Licht oder eine Wolke? Die Leute erzählen und schreiben ja alles Mögliche, aber niemand hat die Seele je gesehen. Am Morgen lief ich einkaufen und bat die Nachbarin, so lange bei meiner Mutter zu sitzen. Die Nachbarin nahm ihre Hand, und Mutter starb. Im letzten Augenblick schrie sie noch etwas Unverständliches. Rief nach jemandem … Rief jemanden beim Namen … Wen? Die Nachbarin wusste es nicht mehr. Sie kannte den Namen nicht. Ich habe Mutter gewaschen und angezogen, ohne jedes Gefühl, wie ein Ding. Wie einen Topf. Ich hatte keine Gefühle, die Gefühle hatten sich verkrochen. Ja, wirklich wahr … Ihre Freundinnen kamen, klauten das Telefon … Alle Verwandten reisten an, auch meine mittlere Schwester aus dem Dorf. Mutter lag da … Meine Schwester öffnete ihr die Augen. »Warum rührst du die tote Mutter an?« »Weißt du noch, wie sie uns als Kinder immer verhöhnt hat? Sie mochte es, wenn wir weinten. Ich habe sie gehasst.«
    Die Verwandten versammelten sich und stritten … Schon in der Nacht fingen sie an, die Sachen aufzuteilen, da lag sie noch im Sarg. Der eine packte den Fernseher ein, der Nächste die Nähmaschine … die goldenen Ohrringe nahmen sie der Toten ab … Sie suchten nach Geld, fanden aber keins. Ich saß da und heulte. Irgendwie tat sie mir sogar leid. Am nächsten Tag wurde sie eingeäschert … Wir wollten die Urne in unser Dorf bringen und sie neben unserem Vater begraben, obwohl sie das nicht gewollt hatte. Sie hatte gesagt, wir sollten sie nicht bei Vater begraben. Sie hatte Angst. Gibt es ein Jenseits oder nicht? Irgendwo werden sie und Vater sich doch wiedertreffen … (Sie hält inne.) Ich habe nicht mehr viele Tränen … Ich staune selbst, wie gleichgültig mir inzwischen alles ist. Der Tod wie das Leben. Schlechte Menschen wie gute. Ja, ich pfeife darauf … Wenn das Schicksal dich nicht mag, bist du verloren. Deinem Los entgehst du nicht … Ja, ja … Meine ältere Schwester, bei der ich wohnte, heiratete ein zweites Mal und zog nach Kasachstan. Ich liebte sie … und ich hatte so ein Gefühl … Mein Herz sagte: Sie darf ihn nicht heiraten. Aus irgendeinem Grund mochte ich ihren zweiten Mann nicht. »Er ist gut. Er tut mir leid.« Mit achtzehn war er im Straflager

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