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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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»Er tut mir leid«, sagte sie. »Ich liebe ihn nicht, aber ich habe Mitleid mit ihm. Schlimm ist nur, dass er wieder angefangen hat zu trinken, aber er hat versprochen, aufzuhören.«
    Ahnen Sie, was sie weiter sagte?
     
     
    XLV Sindan – Gefängnis.
    Botschata – Jungen.
    Duwal – Lehmhütte.
    Barbuchaika – afghanischer Lastwagen.

VON DER U NEMPF INDLICHKEIT DER TOTEN
UND DER STILLE DES STAUBS
     
Olesja Nikolajewa – Unteroffizierin der Miliz,
28 Jahre alt
     
Aus der Erzählung der Mutter
     
    Ich sterbe bald an meinen Geschichten … Warum erzähle ich sie Ihnen? Sie werden mir nicht helfen. Schön, Sie schreiben es auf, veröffentlichen es … Gute Menschen werden es lesen und weinen, doch die schlechten … auf die es ankommt … die werden es nicht lesen. Wozu sollten sie?
    Ich habe das schon so viele Male erzählt …
    Am 23. November 2006 …
    Die Nachricht kam im Fernsehen … Alle Nachbarn wussten schon Bescheid. Es verbreitete sich wie ein Summen in der ganzen Stadt …
    Ich und Nastenka, meine Enkelin … wir waren zu Hause. Bei uns lief nicht der Fernseher, er war alt und seit langem kaputt. Wir hofften: »Wenn Oleska zurückkommt, kaufen wir einen neuen.« Wir machten an diesem Tag Hausputz und große Wäsche. Dabei waren wir sehr fröhlich, haben gelacht und gelacht. Dann kam meine Mutter … unsere Oma … aus dem Garten. »Ach, Mädchen, ihr seid gar zu fröhlich. Passt auf, dass ihr nicht bald weinen müsst.« Mir stockte das Herz … Wie ging es wohl Oleska? Aber wir hatten ja erst am Vortag mit ihr telefoniert, das war ein Feiertag gewesen, der Tag der Miliz … Sie hatte eine Auszeichnung bekommen, das Ehrenabzeichen des Innenministeriums »Für ausgezeichneten Dienst«. Wir hatten ihr gratuliert. »Ach, ich hab euch alle so lieb«, hatte sie gesagt. »Ich möchte recht bald meine Heimat wiedersehen.« Die Hälfte meiner Rente ging damals fürs Telefonieren drauf, denn wenn ich ihre Stimme hörte … dann konnte ich die nächsten zwei, drei Tage überleben. Bis zum nächsten Anruf … »Mama, du musst nicht weinen«, hat sie mich oft beruhigt, »ich trage eine Waffe, aber ich schieße nicht. Einerseits ist hier zwar Krieg, aber andererseits ist die Lage ruhig. Heute früh habe ich einen Mullah singen gehört, ein Gebet. Die Berge hier sind richtig lebendig, bis zum Gipfel mit Gras und Bäumen bewachsen.« »Mama, der ganze tschetschenische Boden ist ölgetränkt. Du kannst in jedem Garten graben – überall ist Öl. Wirklich, der ganze Boden ist hier voller Öl.«
    Warum hat man sie dorthin geschickt? Sie kämpften dort nicht für die Heimat, sondern für Bohrtürme. Ein Tropfen Öl kostet heutzutage so viel wie ein Tropfen Blut …
    Eine Nachbarin kam angelaufen … eine Stunde später die nächste … Was ist los mit ihnen?, dachte ich. Sie kamen ohne jeden Grund vorbei. Saßen eine Weile bei mir und gingen wieder. Da war die Nachricht schon mehrmals im Fernsehen gekommen …
    Bis zum Morgen wussten wir nicht Bescheid. Am Morgen rief mein Sohn an: »Mama, bist du jetzt zu Hause?« »Wieso? Ich will einkaufen gehen.« »Warte auf mich. Ich komme zu dir, wenn Nastja weg ist.« »Ich will sie lieber zu Hause behalten. Sie hat Husten.« »Wenn sie kein Fieber hat, schick sie in die Schule.« Mir stockte das Herz, ich zitterte am ganzen Leib. Ich hatte Schüttelfrost. Kaum war Nastenka losgelaufen, ging ich auf den Balkon. Ich sah meinen Sohn kommen, aber nicht allein, sondern mit der Schwiegertochter. Ich konnte nicht mehr warten, bis sie oben waren, die zwei Minuten – das war zu viel! Ich rannte ins Treppenhaus und schrie hinunter: »Was ist mit Oleska?« Ich habe wohl so geschrien … aus tiefster Seele, dass sie zurückschrien: »Mama! Mama!« Sie stiegen aus dem Fahrstuhl und standen vor mir. Sagten kein Wort. »Ist sie im Krankenhaus?« »Nein.« Vor meinen Augen drehte sich alles. Wie ein Karussell. Danach … ich erinnere mich kaum … Plötzlich waren viele Menschen da … Alle Nachbarn hatten die Türen geöffnet, wollten mir vom Zementboden hochhelfen, redeten auf mich ein. Doch ich kroch auf dem Boden herum, griff nach ihren Beinen, küsste ihre Schuhe. »Gute Menschen … ihr Lieben … sie kann doch Nastenka nicht verlassen haben … ihren Sonnenschein … ihr Licht im Fenster … Ihr Lie-ben …« Ich schlug mit der Stirn auf den Boden. In den ersten Minuten glaubt man es nicht, klammert sich an die bloße Luft. Nein, sie ist nicht tot, sie kommt zurück, als Krüppel.

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