Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
Vom Netzwerk:
dafür, dass sie ihnen beim Schuldeneintreiben helfen. Diese Männer schießen ohne Bedenken, sie kennen kein Mitleid, wenn sie sehen: So ein Milchbubi – hat mit zwanzig einen Haufen Geld, und sie haben nur ihre Medaillen. Obendrein Malaria und Hepatitis … Warum sollten sie mit so einem Knaben Mitleid haben? Mit ihnen hatte ja auch niemand Mitleid … Sie wollen schießen … Schreib das nicht auf … Ich habe Angst … Sie machen kurzen Prozess: An die Wand! Nach Tschetschenien würden sie gern gehen, weil dort Freiheit herrscht … und weil sie finden, dass man dort die Russen schlecht behandelt … und weil sie ihren Frauen Pelzmäntel mitbringen wollen. Und goldene Ringe. Meiner wollte auch hin, aber Trinker nehmen sie nicht. Sie können genug gesunde Männer kriegen. Jeden Tag höre ich dasselbe: »Gib mir Geld.« »Nein.« »Bei Fuß, du Hündin!« Dann haut er mir eine rein. Hinterher sitzt er da und heult. Wirft sich mir an den Hals: »Verlass mich nicht!« Ich hatte lange Mitleid mit ihm. (Sie weint.)
    Dieses verfluchte Mitleid … Ich werde es nicht mehr zulassen … Spekuliere nicht auf mein Mitleid! Löffele deine Kotze mit deinem eigenen Löffel aus. Selber! Vergib mir, Herr, wenn es dich wirklich gibt. Vergib mir.
    Wenn ich abends von der Arbeit nach Hause komme … Dann höre ich ihn schon. Wie er unseren Sohn trainiert. Ich kenne das alles auswendig: »Stopp! Merk dir: Du schleuderst die Handgranate ins Fenster – dann rollst du dich hierher. Auf die Erde. Dann hinter die Säule …« Meine Güte! »Vier Sekunden, und du bist auf der Treppe, du trittst die Tür ein, feuerst mit der MP nach links. Der Erste fällt … Der Zweite rennt vorbei … Der Dritte gibt Deckung … Stopp! Stopp!!« Stopp … (Sie schreit.) Ich habe Angst! Wie kann ich meinen Sohn retten? Ich laufe zu meinen Freundinnen … Die eine sagt: »Du musst in die Kirche gehen. Bete.« Eine andere ist mit mir zu einer weisen Frau gegangen … Wohin auch sonst? Die Frau war uralt, wie das Gerippe Unsterblich 1 . Sie sagte, ich solle am nächsten Tag wiederkommen und eine Flasche Wodka mitbringen. Mit dieser Flasche ist sie durch ihre Wohnung gelaufen, dabei hat sie geflüstert und die Hände darüber kreisen lassen, dann gab sie sie mir zurück. »Der Wodka ist verhext. Gieß ihm davon zwei Tage lang ein Gläschen ein, am dritten wird er keinen mehr wollen.« Tatsächlich hat er einen Monat nicht getrunken. Aber danach ging es wieder los: Er kam nachts stockbetrunken nach Hause getorkelt, polterte in der Küche mit Töpfen herum, verlangte was zu futtern … Ich ging zu einer anderen weisen Frau … Die legte mir Karten und goss geschmolzenes Blei in eine Tasse mit Wasser. Sie brachte mir einige einfache Beschwörungen bei – mit Salz, mit einer Handvoll Sand. Nichts half! Vom Wodka und vom Krieg kann man keinen kurieren … (Sie wiegt ihren verletzten Arm.) Ach, ich bin so müde! Ich habe mit keinem mehr Mitleid … nicht mit den Kindern, und auch nicht mit mir selber … Ich rufe nicht nach meiner Mutter, aber sie erscheint mir im Traum. Jung und fröhlich. Immer ist sie jung und lacht. Ich verscheuche sie … Oder ich träume von meiner Schwester, sie ist ernst und fragt mich immer ein und dasselbe: »Denkst du, du kannst dich selber ausschalten, wie eine Lampe?« (Sie hält inne.)
    Wirklich wahr … Ich habe in meinem Leben nichts Schönes gesehen. Und ich werde auch nichts Schönes mehr sehen. Gestern war er hier im Krankenhaus: »Ich hab den Teppich verkauft. Die Kinder haben Hunger.« Meinen geliebten Teppich. Das war das einzige gute Stück im Haus … das noch geblieben war … Ein ganzes Jahr hatte ich dafür gespart. Kopeke für Kopeke. So sehr hatte ich mir diesen Teppich gewünscht … aus Vietnam … Und er hat ihn einfach so vertrunken. Die Mädchen von meiner Arbeit waren hier: »Oje, Tomka, du musst schnell wieder nach Hause. Der Kleine geht ihm auf die Nerven – er schlägt ihn. Und die Große (die Tochter meine Schwester), die ist doch schon zwölf … Du weißt ja selber … im Suff …«
    Nachts liege ich wach. Ich kann nicht schlafen. Dann falle ich in einen Abgrund, als würde ich fliegen. Und ich weiß nicht, wie ich am Morgen erwachen werde. Ich habe schreckliche Gedanken …
    Beim Abschied umarmt sie mich überraschend.
    Behalt mich in Erinnerung …
     
    Ein Jahr später unternahm sie einen weiteren Selbstmordversuch. Diesmal mit Erfolg. Ihr Mann, erfuhr ich, hatte bald eine neue Frau. Ich rief sie an.

Weitere Kostenlose Bücher