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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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war schaurig! Es war Winter. Die Erde auf dem Friedhof musste mit der Spitzhacke bearbeitet werden, mit einem Feuer aus Birkenscheiten und Autoreifen wurde die Grube aufgetaut. Die Männer verlangten eine Kiste Wodka. Kaum war Vater unter der Erde, betrank sich meine Mutter. Ganz fröhlich wurde sie. Und ich weinte … Noch heute muss ich losheulen … Meine leibliche Mutter … sie hat mich geboren … Sie sollte mir der liebste Mensch auf Erden sein … Sobald ich abgereist war, hat sie das Haus verkauft und den Schuppen abgefackelt, um die Versicherung zu kassieren, und kam zu mir in die Stadt. Hier hat sie einen Neuen gefunden … Sehr schnell … Er hat seinen Sohn samt Schwiegertochter aus dem Haus gejagt und die Wohnung meiner Mutter überschrieben. Sie fesselte die Männer an sich, sie kannte da irgendein geheimes Mittel … einen Zauber … (Sie wiegt ihren verletzten Arm wie ein Baby.) Mein Mann jagte mich immer mit einem Hammer in der Hand, zweimal hat er mir ein Loch in den Kopf geschlagen. Er griff sich eine Flasche Wodka, steckte eine Gurke in jede Tasche, und weg war er. Wohin bloß? Die Kinder waren immer hungrig … Wir lebten nur von Kartoffeln, an Feiertagen gab es Kartoffeln mit Milch oder mit Sprotten. Aber wehe, ich sagte was, wenn er zurückkam: ein Glas ins Gesicht, einen Stuhl gegen die Wand … Nachts besprang er mich wie ein Tier … Ich habe im Leben nichts Gutes gesehen, nicht ein bisschen. Zur Arbeit kam ich verprügelt und verheult, aber ich musste lächeln, mich verbeugen. Einmal rief mich der Direktor des Restaurants in sein Büro: »Deine Tränen kann ich hier nicht gebrauchen. Ich hab selber genug Kummer, meine Frau ist schon das zweite Jahr gelähmt.« Und grapschte mir unter den Rock …
    Keine zwei Jahre hat meine Mutter mit meinem Stiefvater zusammengelebt … Dann rief sie an: »Komm her … Hilf mir, ihn zu begraben. Wir bringen ihn ins Krematorium.« Vor Schreck wäre ich fast in Ohnmacht gefallen. Dann kam ich wieder zu mir – ich muss hin. Dabei hatte ich nur einen Gedanken: Wenn sie ihn nun getötet hat? Getötet, um die Wohnung für sich allein zu haben, um ungestört trinken und feiern zu können? Wie? Und jetzt hat sie es eilig, ihn ins Krematorium zu bringen. Ihn zu verbrennen. Bevor seine Kinder kommen … Wenn sein ältester Sohn, er ist Major, aus Deutschland kommt … ist nur noch ein Häufchen Asche da … Hundert Gramm leichter Sand in einer kleinen weißen Vase … Durch all diese Erschütterungen blieb meine Regel aus, zwei Jahre lang. Als sie wiederkam, bat ich die Ärzte: »Schneiden Sie mir alle weiblichen Organe raus, operieren Sie mich, ich will keine Frau mehr sein! Auch keine Geliebte mehr! Keine Ehefrau und keine Mutter mehr!« Meine leibliche Mutter … sie hat mich geboren … Ich wollte sie lieben … Als ich noch klein war, bat ich sie oft: »Mamotschka, gib mir einen Kuss.« Aber sie war immer betrunken … Wenn Vater zur Arbeit gegangen war, hatte sie das Haus voller betrunkener Kerle. Einer hat mich mal ins Bett gezerrt … Da war ich elf … Ich habe es meiner Mutter gesagt, aber sie hat mich nur angeschrien. Sie trank … und trank … Sie hat ihr Leben lang getrunken und sich amüsiert. Und dann sollte sie auf einmal sterben! Sie wollte nicht. Um keinen Preis wollte sie sterben. Sie war 59 Jahre alt, ihr wurde eine Brust entfernt, sechs Wochen später auch die zweite. Aber sie hatte sich einen jungen Liebhaber zugelegt, fünfzehn Jahre jünger als sie. »Bringt mich zu einer Heilerin«, schrie sie, »rettet mich!« Es ging ihr immer schlechter … Der junge Mann pflegte sie, trug den Nachttopf raus, wusch sie. Sie dachte nicht daran zu sterben. »Aber sollte ich doch sterben«, sagte sie, »hinterlasse ich alles ihm. Die Wohnung und den Fernseher.« Damit wollte sie mich und meine Schwester verletzen … Sie war böse … Und sie hing am Leben. Richtig lebensgierig war sie. Wir brachten sie zu einer weisen Frau, trugen sie aus dem Auto zu ihr. Die Alte betete, legte Karten. »Ach so?«, sagte sie und stand auf. »Schafft sie weg! Ich werde sie nicht behandeln …« Mutter schrie uns an: »Geht raus. Ich will mit ihr allein sein …« Aber die Alte ließ uns nicht weg … Sie schaute die Karten an. »Ich werde sie nicht behandeln. Sie hat schon mehr als einen Menschen ins Grab gebracht. Als sie krank wurde, ist sie in die Kirche gegangen und hat zwei Kerzen aufgestellt …« Mutter: »Für die Gesundheit meiner Kinder …« Die Alte: »Für

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