Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
Vom Netzwerk:
»Nebelbomben!«. Einmal hätte er mich fast erschlagen, als ich ihn weckte: »Kolja, Kolja, wach auf!« Wirklich wahr … Ich begann ihn sogar zu lieben … Ich lernte viele afghanische Wörter: Sindan, Botschata, Duwal … Barbuchaika XLV … » Chudo Chafes! « – »Leb wohl, Afghanistan!«. Ein Jahr lang lebten wir gut zusammen. Ja, wirklich wahr! Wenn er ein wenig Geld hatte, brachte er Büchsenfleisch mit – sein Lieblingsessen. Noch von Afghanistan her. Wenn sie in die Berge gingen, nahmen sie immer Büchsenfleisch mit und Wodka. Er brachte uns bei, wie man Erste Hilfe leistet, welche Pflanzen essbar sind und wie man Tiere fängt. Schildkröten, sagte er, schmecken süß. »Hast du auch auf Menschen geschossen?« »Da hat man keine Wahl: du oder sie.« Weil er so vieles erlitten hatte, verzieh ich ihm alles … Ich habe mir diese Bürde selbst aufgeladen …
    Und jetzt … Seine Freunde schleppen ihn nachts nach Hause und legen ihn mir vor die Tür. Ohne Uhr, ohne Hemd … mit nacktem Oberkörper liegt er da … Die Nachbarn klingeln bei mir: »Hol ihn rein, Tamara! Er holt sich noch den Tod bei der Kälte.« Ich ziehe ihn in die Wohnung. Er weint, heult, wälzt sich am Boden. Keine Arbeit behält er lange – er war Wachmann, Nachtwächter … Ständig braucht er was zu trinken – zum Betrinken oder zum Ausnüchtern. Alles hat er vertrunken … Ich weiß nie: Ist was zu essen im Haus oder nicht? Er beschimpft mich wüst oder hockt sich vor den Fernseher. Die Nachbarn haben einen Untermieter … einen Armenier … Der hat mal irgendwas gesagt, das meinem Mann nicht gefallen hat. Am Ende lag der Armenier am Boden, voller Blut, mit ausgeschlagenen Zähnen und gebrochener Nase. Auf den Markt traue ich mich mit ihm nicht, die Händler dort sind ja meist Usbeken und Aserbaidschaner. Beim geringsten Anlass … da hat er einen Spruch parat: »Für jedes schwarze Arschloch findet sich ein Bolzen mit Gewinde.« Die Händler geben ihm Preisnachlass, wollen sich nicht mit ihm anlegen. »Ach, ein ›Afghane‹ … ein Irrer … Teufel!« Er schlägt die Kinder. Der Kleine liebte ihn sehr, er hängte sich ständig an ihn, doch dann hat ihn der Vater einmal fast mit einem Kissen erstickt. Jetzt rennt der Kleine, sobald der Vater die Tür aufmacht, schnell in sein Bett und macht die Augen zu, damit er ihn nicht schlägt, oder er versteckt alle Kissen unterm Sofa. Ich kann nur heulen … oder … (Sie zeigt auf ihren verbundenen Arm.) Am Tag des Fallschirmjägers … da versammeln sie sich … er und seine Freunde … alle im gestreiften Soldatenunterhemd, wie er … Sie lassen sich volllaufen. Und pinkeln mir auf dem Klo alles voll. Sie sind nicht ganz richtig im Kopf … Sie leiden an Größenwahn: Wir waren im Krieg! Wir sind die Größten! Ihr erster Trinkspruch: »Die ganze Welt ist Scheiße, alle Menschen sind Nutten, und die Sonne ist eine verfickte Lampe.« So geht das bis zum Morgen: »auf das Seelenheil«, »auf die Gesundheit«, »auf den Orden«, »auf dass alle krepieren« … Ihr Leben ist verpfuscht … Ich kann dir nicht sagen, was daran schuld ist – der Wodka oder der Krieg. Sie sind böse wie die Wölfe! Sie hassen die Kaukasier und die Juden. Die Juden, weil sie Christus getötet und die Sache Lenins zugrunde gerichtet haben. Zu Hause fühlen sie sich nicht mehr wohl: aufwachen, waschen, essen – das ist öde! Sie würden auch jetzt noch sofort nach Tschetschenien gehen. Die Helden spielen! Sie sind sauer, sauer auf alle: auf die Politiker und auf die Generäle, auf die, die nicht dort waren. Auf die besonders … auf die vor allem … Viele haben keinen Beruf, genau wie meiner. Sie haben nur eines gelernt: mit einer Pistole rumlaufen. Sie sagen, sie trinken aus Kummer … Oje-oje! Sie haben auch dort getrunken, daraus machen sie gar keinen Hehl: »Ohne hundert Gramm Wodka schafft es der russische Soldat nicht bis zum Sieg«, »Wirf einen Russen in der Wüste ab – nach zwei Stunden ist er betrunken, aber Wasser findet er nicht«. Sie tranken Methylalkohol und Bremsflüssigkeit … Aus Dummheit und im Suff traten sie auf Minen … Dann kamen sie nach Hause: Einer hat sich aufgehängt, einer wurde bei einem Streit erschossen, einer zum Krüppel geprügelt … einer hat den Verstand verloren und ist im Irrenhaus gelandet … Das sind nur die, von denen ich gehört habe. Weiß der Geier, was noch alles … Die Kapitalisten … na ja, diese neuen Russen … die stellen die Exsoldaten an, bezahlen sie

Weitere Kostenlose Bücher