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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Von Anfang an, als sie zur Miliz gegangen ist, hat mir das missfallen: meine Oleska – und Milizionärin? Nein, das gefiel mir nicht! Das gefiel mir überhaupt nicht … Daran war so etwas … An Ausbildung hatte sie ja nur die Berufsschule und ein Jahr Studium. Sie konnte lange keine Arbeit finden. Aber bei der Miliz wurde sie sofort genommen. Ich hatte Angst … Miliz – das heißt Business … Mafia … Die Leute haben Angst vor den Milizionären, in jeder Familie hat irgendwer unter der Miliz gelitten. Bei unserer Miliz werden Menschen gefoltert, zu Krüppeln geprügelt. Die Milizionäre sind gefürchtet wie Kriminelle. Gott bewahre! Immer wieder steht in der Zeitung: Ungeheuer in Uniform … haben jemanden vergewaltigt … ermordet … So etwas hat es früher … zu Sowjetzeiten … Nein, niemals! Und selbst wenn es so etwas gegeben hat … Über vieles wurde ja nicht geredet … und geschrieben … Und wir fühlten uns sicher. (Sie überlegt.) Die Hälfte der Milizionäre war im Krieg. In Afghanistan oder in Tschetschenien. Sie haben getötet. Ihre Psyche ist gestört. Sie haben dort auch gegen die friedliche Bevölkerung gekämpft. Solche Kriege sind das heute: Soldaten kämpfen nicht nur gegen Soldaten, sondern auch gegen Zivilisten. Gegen ganz normale Menschen. Für sie sind auf einmal alle Feinde: Männer, Frauen, Kinder. Und hier, zu Hause, wenn sie hier einen Menschen töten, wundern sie sich, dass sie das erklären müssen. In Tschetschenien mussten sie nichts erklären … »Mama«, wandte Oleska dagegen ein, »du hast unrecht. Alles hängt vom Einzelnen ab. Eine Frau als Milizionär, das ist schön. Das blaue Hemd, die Schulterstücke …«
    Am letzten Abend kamen Freunde sie besuchen, sie verabschieden. Jetzt fällt mir das wieder ein … alles fällt mir wieder ein … Sie redeten die ganze Nacht …
     
    »Russland ist ein großes Land, kein Gasrohr mit Hahn dran …«
     
    »Die Krim ist weg … weggegeben … Tschetschenien führt Krieg gegen uns … Tatarstan regt sich … Ich will weiter in einem großen Land leben … Im Luftraum über Riga bleiben wir die Sieger …«
     
    »Russland wird zur Sau gemacht wegen Tschetschenien. Und die tschetschenischen Banditen gelten als Helden. Menschenrechte!? Und dort? Da kommen sie mit MP in ein russisches Haus – haut ab, oder wir bringen euch um. Ein guter Tschetschene sagt erst: ›Hau ab!‹ und tötet dann, ein böser tötet gleich. Also Koffer packen, ab zum Bahnhof, nach Russland. An den Zäunen steht geschrieben: ›Kauft von Mascha kein Quartier, bald gehört uns alles hier‹, ›Russen, geht nicht weg – wir brauchen Sklaven‹.«
     
    »Zwei russische Soldaten und ein Offizier wurden von den Tschetschenen gefangen genommen. Den Soldaten haben sie die Köpfe abgeschnitten, den Offizier ließen sie laufen: ›Geh und verlier den Verstand.‹ Ich habe Videos gesehen … Sie schneiden die Ohren ab … hacken Finger ab … In Kellern halten sie russische Sklaven – Gefangene. Das sind Tiere!!«
     
    »Ich gehe hin! Ich brauche Geld für die Hochzeit. Ich will heiraten. Ein hübsches Mädchen … die wird nicht lange warten …«
     
    »Ich habe einen Freund … Wir waren zusammen bei der Armee. Er lebte in Grosny. Sein Nachbar war Tschetschene. Sie waren befreundet. Eines schönen Tages sagt der Tschetschene zu ihm: ›Bitte geh weg!‹ ›Warum?‹ ›Weil wir euch bald alle abschlachten werden.‹ Sie haben ihre Dreizimmerwohnung dort verlassen, jetzt leben sie in Saratow im Wohnheim. Sie durften nichts mitnehmen: ›Soll doch Russland euch alles neu kaufen‹, haben die Tschetschenen gebrüllt.«
     
    »Russland ist in die Knie gegangen, aber noch ist es nicht besiegt. Wir sind russische Patrioten! Wir müssen unsere Pflicht gegenüber der Heimat erfüllen! Kennt ihr den: Genossen Soldaten und Offiziere, wenn ihr euch in Tschetschenien bewährt, dann schickt euch die Heimat auf Urlaub nach Jugoslawien. Nach Europa! … Verdammte Scheiße!!«
     
    Mein Sohn hatte lange Geduld mit mir, bis er es nicht mehr aushielt. Er schimpfte: »Mama, du wirst gar nichts erreichen, du bekommst höchstens einen Schlaganfall.« Er hat mich ins Sanatorium geschickt. Mit Gewalt sozusagen, mit einem Krach. Im Sanatorium habe ich eine liebe Frau kennengelernt, ihre Tochter war an einer Abtreibung gestorben, und wir weinten viel zusammen. Wir wurden Freundinnen. Vor kurzem habe ich bei ihr angerufen – sie ist gestorben. Ist eingeschlafen und nicht mehr

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