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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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herzliche Frau. Unglücklich. Ihr Mann war ein Trinker. Mein Gott! Selbst Gorbatschow, der Generalsekretär der KPdSU … In einem Interview mit ihm habe ich gelesen, dass er bei vertraulichen Gesprächen in seinem Büro ebenfalls den Fernseher laut stellte oder das Radio. Das war einfach eine Grundregel. Zu ernsthaften Gesprächen lud er die Leute auf seine Präsidentendatscha außerhalb der Stadt ein. Und dort … Dort gingen sie in den Wald, gingen spazieren und redeten. Die Vögel denunzieren niemanden … Alle hatten vor etwas Angst, auch diejenigen, vor denen man Angst hatte. Ich hatte Angst.
    Die letzten sowjetischen Jahre … Was ist mir davon in Erinnerung? Ein ständiges Gefühl der Scham. Ich schämte mich für den mit Orden und Heldensternen behängten Breschnew und dafür, dass der Volksmund den Kreml ein komfortables Altersheim nannte. Für die leeren Regale in den Geschäften. Die Pläne wurden erfüllt und übererfüllt, aber in den Läden gab es nichts zu kaufen. Wo war unsere Milch? Unser Fleisch? Ich verstehe bis heute nicht, wo das alles blieb. Die Milch war eine Stunde nach Ladenöffnung alle. Ab mittags standen die Verkäufer hinter leeren Ladentischen. In den Regalen Dreilitergläser mit Birkensaft und Packungen mit Salz, die merkwürdigerweise immer nass waren. Und Heringsbüchsen. Sonst nichts! Gab es mal Wurst zu kaufen, war sie im Nu weg. Würstchen und Pelmeni waren Delikatessen. Im Kreiskomitee teilten wir ständig irgendetwas zu: dem einen Betrieb zehn Kühlschränke und fünf Pelzmäntel, jenem Kolchos zwei jugoslawische Möbelgarnituren und zehn polnische Handtaschen. Töpfe und Damenunterwäsche … Strumpfhosen … Eine solche Gesellschaft konnte sich nur durch Angst erhalten. Durch einen ständigen Ausnahmezustand – viel schießen und viel einsperren. Aber der Sozialismus mit Solowki-Inseln und Weißmeerkanal war am Ende. Gebraucht wurde ein irgendwie anderer Sozialismus …
    Die Perestroika … Eine Zeitlang kamen die Menschen wieder zu uns. Traten in die Partei ein. Alle hegten große Erwartungen. Alle waren damals naiv, die Linken wie die Rechten, Kommunisten wie Antisowjetschiki. Alle waren Romantiker. Heute schämen sie sich dafür, für ihre Naivität. Und beten Solschenizyn an. Der große weise alte Mann aus Vermont! Nicht nur Solschenizyn, viele begriffen schon damals, dass es so, wie wir lebten, nicht weitergehen konnte. Zu viele Lügen. Auch die Kommunisten, ob Sie es glauben oder nicht, auch sie wussten das. Unter den Kommunisten gab es viele kluge und ehrliche Menschen. Aufrichtige. Ich persönlich kannte eine Menge solcher Leute, besonders häufig waren sie in der Provinz. Leute wie mein Vater … Mein Vater wurde nicht in die Partei aufgenommen, er hat unter der Partei gelitten, aber er glaubte an sie. Glaubte an die Partei und an das Land. Jeden Morgen schlug er als Erstes die Prawda auf und las sie von A bis Z . Es gab mehr Kommunisten ohne Parteibuch als solche mit, Kommunisten im Herzen. (Sie schweigt.) Auf jeder Demonstration stand auf einem der obligaten Spruchbänder: »Partei und Volk sind eins!« Das war nicht erfunden, das war die Wahrheit. Ich will niemanden agitieren, ich erzähle nur, wie es war. Das ist alles schon vergessen … Viele gingen aus Überzeugung in die Partei, nicht nur wegen der Karriere oder aus pragmatischen Erwägungen: »Wenn ich parteilos bin und klaue, komme ich ins Gefängnis, wenn ich in die Partei gehe und klaue, fliege ich aus der Partei, aber ich komme nicht ins Gefängnis.« Es ärgert mich, wenn verächtlich vom Marxismus gesprochen wird, voller Spott. Schnell in die Tonne damit! Auf den Müll! Das ist eine große Lehre, sie wird alle Verfolgungen überleben. Auch unseren sowjetischen Misserfolg. Denn … Es gibt viele Gründe … Der Sozialismus, das sind nicht nur Lager, Spitzeleien und Eiserner Vorhang, das ist auch eine gerechte, klare Welt: mit allen teilen, die Schwachen schützen, Mitgefühl haben, nicht alles an sich raffen. Man sagt zu mir: Man konnte kein Auto kaufen – aber es hatte eben niemand ein Auto. Niemand trug Anzüge von Versace, niemand kaufte sich ein Haus in Miami. Mein Gott! Die Regierenden der UdSSR lebten auf dem Niveau eines kleinen Unternehmers, kein Vergleich mit den Oligarchen. O nein! Sie besaßen keine Jachten mit Champagnerdusche. Das muss man sich mal überlegen! Im Fernsehen werben sie: Kauft Kupferwannen – dabei kosten die so viel wie eine Zweizimmerwohnung. Für wen sind die, frage ich

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