Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
Sie? Vergoldete Türklinken … Ist das Freiheit? Der »kleine«, der »einfache« Mensch ist heute ein Nichts, eine Null. Er ist ganz unten. Damals konnte er an die Zeitung schreiben, ins Kreiskomitee gehen und sich beschweren: über einen Natschalnik, über schlechte Bedienung … über einen untreuen Ehemann … Manches war dumm, das bestreite ich nicht, aber wer hört diese einfachen Menschen heute überhaupt an? Wer interessiert sich für sie? Erinnern Sie sich an die sowjetischen Straßennamen? Straße der Metallurgen, der Enthusiasten … Sawodskaja, Proletarskaja III … Der kleine Mensch … er war der Wichtigste … Nichts als Phrasen, bloße Deklaration, Tarnung, wie Sie sagen, aber heute muss sich niemand mehr tarnen. Du hast kein Geld – hau ab! Kusch! Die Straßen werden umbenannt: Meschtschanskaja, Kupetscheskaja, Dworjanskaja IV … Ich habe sogar schon Wurst gesehen, die »Knjasheskaja« V hieß, und Wein namens »Generalskoje«. Nur der Stärkste überlebt, der mit den stahlharten Muskeln. Aber nicht jeder kann rücksichtslos über andere hinweggehen, anderen etwas wegreißen. Die einen sind von Natur aus so beschaffen, dass sie es nicht können, anderen ist es einfach zuwider.
Sie und ich … (Sie nickt zu ihrer Freundin hinüber.) Wir streiten natürlich … Sie sagt, für wahren Sozialismus brauche man ideale Menschen, doch die gebe es nicht. Die Idee sei ein Hirngespinst … ein Märchen. Unsere Menschen würden heute um keinen Preis mehr ihren klapprigen ausländischen Wagen und ihren Pass mit dem Schengen-Visum gegen den sowjetischen Sozialismus tauschen. Doch ich glaube an etwas anderes: Die Menschheit bewegt sich in Richtung Sozialismus. In Richtung Gerechtigkeit. Einen anderen Weg gibt es nicht. Schauen Sie nach Deutschland … Nach Frankreich … Es gibt das »schwedische« Modell. Welche Werte hat denn der russische Kapitalismus? Verachtung für die »Masse«, für diejenigen, die keine Million besitzen, keinen Mercedes. Statt der roten Fahne – Christ ist erstanden! Und Konsumkult … Der Mensch schläft nicht mit dem Gedanken an etwas Erhabenes ein, sondern mit dem Gedanken daran, dass er sich heute irgendetwas nicht kaufen konnte. Meinen Sie, das Land wäre zusammengebrochen, weil die Menschen die Wahrheit über den Gulag erfahren haben? Das denken die Leute, die Bücher schreiben. Doch der Mensch … der normale Mensch lebt nicht mit der Geschichte, der lebt einfacher: Er verliebt sich, heiratet, kriegt Kinder. Baut ein Haus. Das Land ist untergegangen, weil es keine Damenstiefel gab, kein Toilettenpapier und keine Apfelsinen. Keine verfluchten Jeans! Heute sehen unsere Geschäfte aus wie Museen. Wie Theater. Man will mir einreden, Klamotten von Versace und Armani, das sei alles, was der Mensch braucht. Das sei genug. Das Leben bestehe aus Finanzpyramiden und Wechseln. Freiheit, das sei Geld und Geld sei Freiheit. Unser Leben dagegen sei keine Kopeke wert gewesen. Nein, das ist doch … das ist … verstehen Sie … Ich finde gar keine Worte, ich weiß nicht, wie ich das nennen soll … Mir tun meine kleinen Enkelinnen leid. Ja, sie tun mir leid. Ihnen wird das Tag für Tag vom Fernsehen eingehämmert. Ich bin damit nicht einverstanden. Ich war und bleibe Kommunistin …
Wir machen eine lange Pause. Der obligate Tee, diesmal mit Kirschkonfitüre, von der Gastgeberin nach eigenem Rezept eingekocht.
Das Jahr 89 … Ich war damals schon Dritter Sekretär des Partei-Kreiskomitees. Ich bin vom Schuldienst zur Parteiarbeit gekommen, ich habe russische Sprache und Literatur unterrichtet. Meine Lieblingsschriftsteller – Tolstoi, Tschechow … Als der Vorschlag kam, war ich erschrocken. So eine Verantwortung! Doch ich zögerte keinen Augenblick, ich verspürte den aufrichtigen Drang, der Partei zu dienen. In jenem Sommer fuhr ich im Urlaub nach Hause. Normalerweise trage ich keinen Schmuck, aber damals hatte ich mir eine billige Kette gekauft, und meine Mutter gleich: »Wie eine Königin.« Sie war begeistert von mir … Natürlich nicht wegen der Kette! Vater sagte: »Keiner von uns wird dich je um etwas bitten. Du musst sauber sein vor den Menschen.« Meine Eltern waren stolz! Sie waren glücklich! Und ich … ich … was empfand ich? Vertraute ich der Partei? Ganz ehrlich – ja, ich vertraute ihr. Das tue ich noch heute. Von meinem Parteibuch werde ich mich niemals trennen, egal, was passiert. Ob ich an den Kommunismus glaubte? Ich will ehrlich sein, ich will nicht lügen:
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