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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Ich glaubte an die Möglichkeit, das Leben gerecht einzurichten. Noch heute … das habe ich ja schon gesagt … noch heute glaube ich daran. Ich habe es satt, dauernd zu hören, wie schlecht es uns im Sozialismus ging. Ich bin stolz auf die Sowjetzeit! Es war kein besonders schickes Leben, aber es war ein normales Leben. Es gab Liebe und Freundschaft … Kleider und Schuhe … Wir hörten begierig, was unsere Schriftsteller und Schauspieler sagten, das tut heute keiner mehr. Anstelle der Dichter füllen nun Zauberer und Wunderheiler die Stadien. Die Leute glauben an Zauberer, wie in Afrika. Unser … unser sowjetisches Leben, das war der Versuch einer alternativen Zivilisation, wenn Sie so wollen. Pathetisch gesprochen … Eine Macht des Volkes! Nein, ich kann mich nicht beruhigen. Wo sehen Sie heute noch Melkerinnen, Dreher oder Metrofahrer? In keiner Zeitung, nicht im Fernsehen und nicht im Kreml, wenn Orden und Medaillen verliehen werden. Nirgendwo. Überall neue Helden: Banker und Geschäftsleute, Models und Interdewotschki VI … Manager … Die Jungen können sich noch anpassen, die Alten aber sterben schweigend, hinter verschlossenen Türen. Bettelarm und vergessen. Ich bekomme umgerechnet fünfzig Dollar Rente … (Sie lacht.) Ich habe gelesen, Gorbatschow bekommt genauso viel … Man sagt über uns: »Die Kommunisten haben in Palästen gewohnt und schwarzen Kaviar gelöffelt. Für sich hatten sie schon den Kommunismus!« Mein Gott! Ich habe Ihnen meinen »Palast« gezeigt: eine ganz normale Zweizimmerwohnung, siebenundfünfzig Quadratmeter. Ich habe nichts verborgen: sowjetisches Kristall, sowjetisches Gold …
     
    »Und die Sonderpolikliniken und die Sonderversorgung, die ›internen‹ Wartelisten für Wohnungen und staatliche Datschas, die Partei-Sanatorien?«
     
    Ganz ehrlich? Das gab es … ja, das gab es … aber mehr dort … (Sie zeigt nach oben.) Ich war immer unten, auf der untersten Machtebene. Nah bei den Menschen. Immer auf dem Präsentierteller. Es mag so manches gegeben haben … das bestreite ich nicht … Das bestreite ich nicht! Ich habe in der Perestroika-Presse gelesen, genau wie Sie … dass die Kinder der ZK -Sekretäre mit Sondermaschinen nach Afrika zur Jagd flogen. Brillanten kauften … Trotzdem ist das nicht zu vergleichen damit, wie die »neuen Russen« heute leben. Mit ihren Schlössern und Jachten. Schauen Sie sich an, was die im Moskauer Umland gebaut haben. Paläste! Zwei Meter hohe Mauern, elektrisch geladener Stacheldraht, Videoüberwachung. Bewaffnete Wachposten. Wie im Lager oder einem geheimen militärischen Objekt. Und wer wohnt da – Bill Gates, das Computergenie? Oder Garri Kasparow, der Schachweltmeister? Dort leben die Sieger. Es hat zwar keinen Bürgerkrieg gegeben, aber Sieger, die gibt es. Da leben sie – hinter hohen Mauern. Vor wem verstecken sie sich? Vor dem Volk? Das Volk dachte, es verjagt die Kommunisten, und dann kommen herrliche Zeiten. Ein paradiesisches Leben. Statt freier Menschen haben wir nun diese … mit den Millionen und Milliarden. Gangster! Schießen am helllichten Tag um sich … Sogar bei uns wurde einem Geschäftsmann der Balkon in die Luft gejagt. Sie fürchten niemanden. Sie benutzen Privatflugzeuge mit vergoldeten Klobecken und geben noch damit an. Ich habe im Fernsehen gesehen … da hat einer von denen seine Uhr hergezeigt, die so viel kostet wie ein Bomber. Und ein anderer sein brillantenbesetztes Mobiltelefon. Und keiner! Keiner ruft laut, damit ganz Russland es hört, dass das beschämend ist. Widerlich. Es gab bei uns einmal einen Uspenski 4 , einen Korolenko 5 . Scholochow hat sich für die Bauern eingesetzt, hat einen Brief an Stalin geschrieben. Jetzt möchte ich … Sie stellen mir Fragen, aber ich möchte Sie auch einmal etwas fragen: Wo ist unsere Elite? Warum lese ich täglich in der Zeitung zu jedem beliebigen Anlass die Meinung von Beresowski 6 und Potanin 7 , aber nie die von Okudshawa 8 … von Iskander 9 … Wie ist es gekommen, dass ihr euren Platz geräumt habt, euer Podium? Und als Erste zu den Brosamen vom Tisch der Oligarchen gelaufen seid. Um ihnen zu dienen. Das hat die russische Intelligenz nie getan, und nie hat sie jemandem gedient. Aber heute ist niemand mehr da, keiner redet mehr über Geistiges, bis auf den Popen. Wo sind die Perestroika-Aktivisten?
    Die Kommunisten meiner Generation hatten wenig gemein mit Pawel Kortschagin 10 . Mit den ersten Bolschewiki mit Aktentasche und Revolver. Von ihnen war nur

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