Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
Die sowjetische Heimat ist in Gefahr! Und ganz schnell abrechnen müssen mit den Sobtschaks, den Afanassjews und den übrigen Verrätern. Das Volk war dafür!
An Achromejews Selbstmord glaube ich nicht. Ein kampferprobter Offizier kann sich nicht mit einem Bindfaden erhängt haben … mit einem Band von einer Tortenschachtel … Wie ein Strafgefangener. So erhängt man sich in einer Gefängniszelle – im Sitzen, mit angezogenen Beinen. In Einzelhaft. Das ist gegen die militärische Tradition. Offiziere verachten den Strick. Das war kein Selbstmord, das war Mord. Er wurde ermordet, von denen, die die Sowjetunion ermordet haben. Sie hatten Angst vor ihm – Achromejew besaß große Autorität in der Armee, er hätte den Widerstand organisieren können. Das Volk war noch nicht so desorientiert und vereinzelt wie jetzt. Damals lebten und dachten noch alle gleich. Lasen die gleichen Zeitungen.
Aber das … das habe ich selbst gesehen … Junge Leute haben Leitern an das ZK -Gebäude auf dem Alten Platz gelehnt, es wurde schon nicht mehr bewacht. Hohe Feuerwehrleitern. Sie sind raufgestiegen … Und haben mit Hämmern und Meißeln die goldenen Buchstaben » ZK der KPdSU « abgehackt. Unten haben andere sie zersägt und die Stücke als Souvenirs verteilt. Als die Barrikaden zerlegt wurden, wurde auch der Stacheldraht zu Souvenirs.
So habe ich den Fall des Kommunismus in Erinnerung …«
Aus den Ermittlungsakten
»Am 24. August 1991 um 21 Uhr 50 entdeckte der diensthabende Offizier Korotejew im Büro Nr. 19a im Haus 1 des Moskauer Kreml den Leichnam des Marschalls der Sowjetunion, Sergej Fjodorowitsch Achromejew (geb. 1923), der als Berater des Präsidenten der UdSSR tätig war.
Der Tote befand sich in sitzender Position unter dem Fensterbrett des Büros. Mit dem Rücken lehnte der Tote am Holzgitter vor dem Heizkörper. Der Tote trug die Uniform des Marschalls der Sowjetunion. Die Kleidung wies keinerlei Beschädigungen auf. Am Hals des Toten befand sich eine Würgeschlinge aus doppelt gelegtem synthetischem Bindfaden, die den gesamten Hals umschlang. Das obere Ende der Schlinge war mit Scotch-Klebeband am Fenstergriff befestigt. Am Toten wurden keinerlei Verletzungen außer den vom Erhängen herrührenden festgestellt …«
»Bei der Durchsuchung des Schreibtischinhalts wurden ganz oben, an auffälliger Stelle, fünf Briefe gefunden. Alle handschriftlich verfasst. Die Briefe lagen säuberlich übereinander. Sie sind in der Reihenfolge aufgeführt, in der sie gelegen haben …
Den ersten Brief bittet Achromejew seiner Familie zu übergeben, darin teilt er mit, dass er sich zum Selbstmord entschlossen habe: ›Meine Pflicht als Militär und Bürger stand für mich immer an erster Stelle. Ihr kamt an zweiter Stelle. Heute stelle ich die Pflicht Euch gegenüber zum ersten Mal an die erste Stelle. Ich bitte Euch, diese Tage mutig zu ertragen. Seid einander eine Stütze. Gebt unfreundlich Gesinnten keinen Anlass zu Schadenfreude …‹
Der zweite Brief ist an den Marschall der Sowjetunion S. Sokolow gerichtet. Er enthält die Bitte an Sokolow und an Armeegeneral Lobow, bei der Beerdigung behilflich zu sein und seine Familie in den für sie schweren Tagen nicht allein zu lassen.
Der dritte Brief enthält die Bitte, eine Schuld in der Kremlkantine zu begleichen, daran ist ein 50-Rubel-Schein geheftet.
Der vierte Brief ist nicht persönlich adressiert. ›Ich kann nicht weiterleben, wenn mein Vaterland untergeht und alles zerstört wird, was ich als den Sinn meines Lebens betrachtet habe. Mein Alter und mein vergangenes Leben geben mir das Recht, aus dem Leben zu scheiden. Ich habe gekämpft bis zum Schluss.‹
Der letzte Brief lag einzeln: ›Ich bin ein schlechter Meister im Fertigen von Selbstmordwaffen. Der erste Versuch (um 9.40 Uhr) schlug fehl – der Strick ist gerissen. Ich sammle meine Kräfte, um den Versuch zu wiederholen …‹
Die Gutachten des Schriftsachverständigen bestätigten: Alle Briefe wurden von Achromejew verfasst …«
»Achromejews jüngste Tochter, Natalja, bei deren Familie Achromejew seine letzte Nacht verbrachte, erzählte: ›Noch vor dem August haben wir unseren Vater oft gefragt: Könnte es bei uns zum Staatsstreich kommen? Viele waren unzufrieden mit Gorbatschows Perestroika – mit seiner Geschwätzigkeit, seiner Schwäche, seinen einseitigen Zugeständnissen in den sowjetisch-amerikanischen Abrüstungsverhandlungen, mit der sich verschlechternden wirtschaftlichen Lage
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