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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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des Landes. Doch Vater mochte solche Gespräche nicht, er war überzeugt: ›Es wird keinen Staatsstreich geben. Wenn die Armee einen Umsturz wollte, würde sie die Sache binnen zwei Stunden erledigen. Aber in Russland erreicht man mit Gewalt gar nichts. Einen nicht genehmen Regierungschef aus dem Weg zu räumen ist kein großes Problem. Aber was weiter?‹
    Am 23. August kam Achromejew nicht sehr spät von der Arbeit nach Hause. Die Familie aß zusammen zu Abend. Sie hatten eine große Melone gekauft und saßen lange zusammen. Der Vater, so berichtete die Tochter, sei sehr offen gewesen. Er habe bekannt, dass er mit seiner Verhaftung rechne. Niemand würde im Kreml zu ihm kommen und mit ihm reden. ›Ich weiß‹, sagte er, ›es wird schwer sein für euch, unsere Familie wird zur Zeit mit so viel Dreck beworfen. Aber ich konnte nicht anders handeln.‹ Die Tochter fragte ihn: ›Bereust du nicht, dass du nach Moskau gekommen bist?‹ Achromejew antwortete: ›Hätte ich es nicht getan, würde ich mich mein Leben lang dafür verfluchen.‹
    Vorm Schlafengehen versprach Achromejew seiner Enkelin, am nächsten Tag mit ihr in den Park zu gehen, zur Schaukel. Er war besorgt, wer seine Frau abholen würde, die am Morgen aus Sotschi zurückkommen sollte. Er bat darum, ihn gleich anzurufen, wenn sie angekommen sei. Er bestellte in der Kreml-Garage einen Wagen für sie …
    Die Tochter rief ihren Vater um 9.35 Uhr an. Seine Stimme klang ganz normal … Die Tochter, die ihren Vater sehr gut kannte, glaubt nicht an Selbstmord …«
Aus den letzten Äußerungen
     
    »Ich habe der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken meinen Eid geleistet … und ihr mein Leben lang gedient. Was soll ich also jetzt tun? Wem soll ich dienen? Also, solange ich lebe, solange ich atme, werde ich für die Sowjetunion kämpfen …«
    Fernsehprogramm Wsgljad , 1990
     
    »Heute wird alles schwarzgemalt … Es wird alles negiert, was nach der Oktoberrevolution im Land geschehen ist … Ja, es gab Stalin, es gab den Stalinismus. Ja, es gab die Repressalien, die Gewalt gegen das Volk, das leugne ich nicht. Das alles hat es gegeben. Und dennoch, man muss das objektiv und gerecht erforschen und beurteilen. Mir braucht man darüber nichts zu erzählen, ich stamme selbst aus dieser Zeit. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie die Menschen arbeiteten, mit welchem Glauben … Es geht nicht darum, etwas zu glätten oder zu verstecken. Es gibt nichts zu verstecken, zu verbergen. Angesichts dessen, was im Land geschehen ist und was bereits alle wissen – was sollten da Versteckspiele? Aber den Krieg gegen den Faschismus haben wir gewonnen und nicht verloren. Wir haben den Sieg errungen.
    Ich erinnere mich an die dreißiger Jahre … Menschen wie ich waren herangewachsen. Dutzende Millionen. Und wir bauten bewusst den Sozialismus auf. Wir waren zu jedem Opfer bereit. Ich bin nicht einverstanden mit General Wolkogonow, der schreibt, in den Vorkriegsjahren habe es nur Stalinismus gegeben. Er ist Antikommunist. Aber das Wort ›Antikommunist‹ ist heute bei uns kein Schimpfwort mehr. Ich bin Kommunist, er ist Antikommunist. Ich bin Antikapitalist, und er – ich weiß nicht, was er ist: ein Verteidiger des Kapitalismus oder nicht? Das ist lediglich die Feststellung einer Tatsache. Und ein ideologischer Streit. Ich werde nicht nur kritisiert, sondern regelrecht beschimpft, weil ich ihn einen Wendehals genannt habe … Noch vor kurzem hat Wolkogonow die sowjetische Ordnung, die kommunistischen Ideale zusammen mit mir verteidigt. Und plötzlich diese radikale Wende. Soll er doch einmal sagen, warum er seinen militärischen Eid gebrochen hat …
    Viele haben heute den Glauben verloren. Als Ersten würde ich da Boris Nikolajewitsch Jelzin nennen. Der russische Präsident war schließlich Sekretär des ZK der KPdSU , Kandidat des Politbüros. Und jetzt sagt er ganz offen, dass er nicht an den Sozialismus und den Kommunismus glaubt, dass er alles für falsch hält, was die Kommunisten getan haben. Er ist ein militanter Antikommunist geworden. Aber es gibt auch Menschen, die anders denken. Übrigens gar nicht so wenige. Aber Sie fragen ja mich … Ich bin prinzipiell anderer Meinung … Ich sehe eine Bedrohung für die Existenz unseres Landes, sie ist ganz offensichtlich. Sie ist heute ebenso groß wie 1941 …«
    N. Zenkovič, XX vek. Vysšij generalitet v gody potrjasenij.
    (Das 20. Jahrhundert. Die oberste Generalität in den Jahren
    der Erschütterungen). Moskau

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