Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
verbrenne ich.« 9 Sprach mit ihnen über Gorkis Helden Danko, der sich das Herz aus der Brust reißt und damit anderen den Weg erleuchtet. Über das Leben sprachen wir nicht … jedenfalls wenig … Ein Held! Ein Held! Ein Held! Das Leben bestand aus Helden … aus Opfern und Henkern … Andere Menschen existierten nicht. (Sie schreit. Weint.) Jetzt ist das für mich wie eine Folter – in die Schule zu gehen. Die Kinder erwarten etwas … Worte und Gefühle … Was soll ich sagen … was kann ich ihnen sagen?
Das war tatsächlich so … genau so … Später Abend, ich lag schon im Bett, las den Roman Der Meister und Margarita (er galt noch als Dissidentenliteratur, ich hatte eine maschinengetippte Abschrift bekommen). Ich las die letzten Seiten … Erinnern Sie sich, Margarita bittet Voland, den Meister gehen zu lassen, und Voland, der Geist Satans, sagt: »Schreit nicht in den Bergen, er ist Steinschläge gewohnt, sie beunruhigen ihn nicht. Ihr braucht nicht für ihn zu bitten, Margarita, denn für ihn hat schon jener gebeten, mit dem er so gern sprechen möchte.« 10 Und plötzlich trieb mich eine unbekannte Macht ins Nebenzimmer, zum Sofa, wo mein Sohn schlief. Ich kniete mich vor ihn und flüsterte, wie ein Gebet: »Igorjok, tu’s nicht. Mein Liebling, bitte nicht. Nicht!« Ich tat etwas, das ich nicht mehr durfte, seit er herangewachsen war: Ich küsste seine Hände, seine Füße … Er öffnete die Augen: »Mama, was hast du?« Ich kam sofort zu mir. »Deine Decke ist runtergerutscht. Ich hab sie zurechtgelegt.« Er schlief wieder ein. Und ich … Ich verstand nicht, was mit mir los war. Wenn er fröhlich war, neckte er mich immer: »loderndes springendes Flämmchen«. Ich lief leichtfüßig durchs Leben.
Sein Geburtstag rückte näher … und Neujahr … Ein Freund hatte versprochen, uns eine Flasche Sekt zu besorgen, damals bekamen wir in den Geschäften kaum noch etwas, alles musste besorgt werden. Über Beziehungen. Über Bekannte und Bekannte von Bekannten. Wir besorgten Räucherwurst, Schokoladenkonfekt … Zu Neujahr ein Kilo Mandarinen zu beschaffen, das war ein Riesenglück! Mandarinen waren nicht irgendein Obst, das war etwas Exotisches, nur zu Neujahr roch es nach Mandarinen. Die Delikatessen für den Neujahrstisch wurden monatelang zusammengesammelt. Diesmal hatte ich eine Dose Dorschleber und ein Stück Lachs besorgt. Das alles gab es dann beim Totenmahl … (Sie schweigt.) Nein, ich will nicht so schnell aufhören zu erzählen. Wir hatten ganze vierzehn Jahre. Vierzehn Jahre minus zehn Tage …
Eines Tages räumte ich den Hängeboden auf und fand dort eine Mappe mit Briefen. Als ich in der Entbindungsklinik lag, schrieben mein Mann und ich uns jeden Tag, lange Briefe und ganz kurze, manchmal mehrmals am Tag. Ich las und lachte … Igor war schon sieben … Er konnte nicht begreifen, dass er damals noch nicht da gewesen war, aber sein Vater und ich schon. Das heißt, er war irgendwie auch schon da, in unseren Briefen sprachen wir ständig von ihm: Jetzt hat das Kind sich gedreht, jetzt hat er mich getreten … er bewegt sich … »Ich bin schon mal gestorben, und dann bin ich wieder zu euch gekommen, ja?« Seine Frage ließ mich erstarren. Aber Kinder … sie drücken sich ja manchmal so aus … wie Philosophen, wie Dichter … Ich hätte mitschreiben sollen … »Mama, Großvater ist gestorben … das heißt, er wurde begraben, und nun wächst er …«
In der siebten Klasse hatte er schon ein Mädchen. Er war ernsthaft verliebt. »Du heiratest mir weder deine erste Liebe noch eine Verkäuferin!«, mahnte ich drohend. Ich gewöhnte mich langsam an den Gedanken, ihn eines Tages teilen zu müssen. Bereitete mich innerlich darauf vor. Meine Freundin hat auch einen Sohn, er und Igor waren gleich alt, und meine Freundin gestand mir einmal: »Ich kenne meine Schwiegertochter noch gar nicht, aber ich hasse sie schon.« So sehr liebt sie ihren Sohn. Sie kann sich gar nicht vorstellen, ihn einmal einer anderen Frau zu überlassen. Wie wäre das bei uns? Bei mir? Ich weiß es nicht … Ich habe ihn wahnsinnig geliebt … wahnsinnig … Wie schwer mein Tag auch gewesen sein mochte, wenn ich nach Hause kam und die Tür aufmachte – kam von irgendwoher Licht. Nein, nicht von irgendwoher – von der Liebe.
Ich habe zwei Albträume. Der erste – wir beide ertrinken. Er war ein guter Schwimmer, einmal war ich mit ihm gefährlich weit aufs Meer hinausgeschwommen. Ich drehte um und spürte, dass meine
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