Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
… (Sie schweigt.) Aber die Tür ist verschlossen … der Weg dorthin ist uns versperrt …
… er schmiegt sich auf meinen Schoß. »Mama, wie war ich, als ich klein war?« Und ich erzähle … Wie er an der Tür auf Väterchen Frost gewartet hat. Wie er gefragt hat, mit welchem Bus man dreimal drei Königreiche weit komme. Wie er, als er im Dorf einen alten russischen Ofen sah, die ganze Nacht darauf wartete, dass der losfährt wie im Märchen. Er glaubte das alles …
… ich erinnere mich, dass schon Schnee lag … Er kommt nach Hause gelaufen. »Mama! Ich hab heute jemanden geküsst!« »Du hast jemanden geküsst?!« »Ja. Ich hatte heute mein erstes Rendezvous.« »Und du hast mir nichts davon gesagt?« »Das hab ich nicht mehr geschafft. Ich hab’s Dimka und Andrej gesagt, und wir sind zu dritt hingegangen.« »Geht man denn zu dritt zu einem Rendezvous?« »Ach, allein hab ich mich irgendwie nicht getraut.« »Und, wie war das Rendezvous zu dritt?« »Sehr schön. Wir beide sind Arm in Arm um die Rodelbahn gelaufen und haben uns geküsst. Und Dimka und Andrej haben Wache gestanden.« O mein Gott! »Mama, kann ein Junge aus der Fünften ein Mädchen aus der Neunten heiraten? Wenn es Liebe ist, natürlich …«
… aber das … das … (Sie weint lange.) Darüber kann ich nicht sprechen …
… unser Lieblingsmonat, der August. Wir fahren ins Grüne und bewundern ein Spinnennetz. Wir lachen … lachen … lachen … (Sie schweigt.) Warum weine ich? Wir hatten doch ganze vierzehn Jahre … (Sie weint.)
Ich stehe in der Küche, koche und brate. Das Fenster steht offen. Ich höre, wie er und sein Vater sich auf dem Balkon unterhalten. Igor: »Papa, was ist ein Wunder? Ich glaube, ich weiß es. Hör zu … Es waren einmal ein Alter und eine Alte, und sie hatten ein geflecktes Hühnchen. Das Hühnchen legte ein Ei, kein einfaches Ei, sondern ein goldenes. Der Großvater schlägt und schlägt darauf – es geht nicht kaputt. Die Großmutter schlägt und schlägt darauf – es geht nicht kaputt. Da kommt eine Maus vorbei, wedelt mit dem Schwanz, das Ei fällt herunter und geht kaputt. Der Großvater weint, die Großmutter weint …« Der Vater: »Vom Standpunkt der Logik betrachtet, vollkommen absurd. Sie versuchen immer wieder, das Ei aufzuschlagen, und kriegen es nicht kaputt, und als es kaputt ist – fangen sie an zu weinen! Aber seit vielen Jahren, ach was, seit Jahrhunderten hören sich die Kinder dieses Märchen an wie Verse.« Igor: »Und ich dachte früher immer, mit dem Verstand könne man alles erfassen.« Der Vater: »Viele Dinge kann man mit dem Verstand nicht erfassen. Zum Beispiel die Liebe.« Igor: »Und den Tod.«
Seit seiner Kindheit schrieb er Gedichte … Auf dem Tisch, in seinen Taschen, unterm Sofa – überall fand ich vollgeschriebene Seiten. Er verlor sie, warf sie weg, vergaß sie. Ich konnte gar nicht immer glauben, dass er das geschrieben hatte. »Hast du das etwa geschrieben?« »Was denn?« Ich lese vor: »Sie gehen einander besuchen, die Menschen, sie gehen einander besuchen, die Tiere …« »Ach, das ist alt. Das hab ich schon vergessen.« »Und das hier?« »Was?« Ich lese vor: »Nur an einem dünnen Zweiglein hängen die Sternentröpfchen …« Mit zwölf schrieb er, dass er sterben möchte. Liebe und sterben – das waren seine beiden Wünsche. »Uns beide hat getraut das Wasser tief und blau …« Noch mehr? Hier: »Ich gehöre nicht euch, ihr silbernen Wolken, ich gehöre nicht dir, blauer Schnee auf dem Feld …« Er hat mir das doch vorgelesen. Vorgelesen hat er es mir! Aber in der Jugend schreibt man ja oft über den Tod …
Bei uns zu Hause wurden ständig Verse rezitiert, das war ganz normal: Majakowski, Swetlow … Mein geliebter Semjon Gudsenko: »Wer in den Tod zieht, singt ein Lied, davor darf man auch weinen. Im Kampf die schlimmste Stunde ist das Warten auf den Angriff.« Sehen Sie? Ja, natürlich … Warum frage ich? Wir alle sind damit aufgewachsen … Die Kunst liebt den Tod, unsere ganz besonders. Der Opfer- und Todeskult liegt uns im Blut. Bis zum Äußersten gehen. »Ach, das russische Volk, es stirbt nicht gern seinen eigenen Tod!«, schrieb Gogol. Und Wyssozki sang: »Ich möchte nur kurz noch am Abgrund verharrn …« Am Abgrund! Die Kunst liebt den Tod, aber es gibt doch auch die französische Komödie. Warum gibt es bei uns kaum Komödien? »Vorwärts für die Heimat!« »Vaterland oder Tod!« Ich brachte meinen Schülern bei: »Andern zu leuchten,
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