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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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mit beiden Händen am Rahmen fest und schaut mich unverwandt an. Schaut und schaut. »Was ist mit dir? Setz dich an deine Hausaufgaben. Ich bin bald zurück.« Er dreht sich schweigend um und geht in sein Zimmer. Nach der Arbeit traf ich mich mit meiner Freundin. Sie hatte für ihn einen modischen Pullover gestrickt, das war mein Geburtstagsgeschenk für ihn. Als ich damit nach Hause kam, schimpfte mein Mann: »Begreifst du denn nicht, dass es für ihn noch zu früh ist, so schicke Sachen zu tragen?« Zum Mittag machte ich Hühnerbuletten, die er sehr mochte. Normalerweise verlangte er immer Nachschlag, aber diesmal stocherte er nur im Essen herum und ließ es stehen. »Ist in der Schule was passiert?« Er schwieg. Da fing ich an zu weinen, plötzlich liefen die Tränen wie Sturzbäche. Zum ersten Mal seit Jahren weinte ich so laut, das hatte ich nicht einmal bei der Beerdigung meines Bruders getan. Und er erschrak. Er erschrak so, dass ich ihn sofort tröstete: »Probier mal den Pullover an.« Er zog ihn an. »Gefällt er dir?« »Sehr.« Nach einer Weile schaute ich zu ihm ins Zimmer – er lag da und las. Im Nebenzimmer tippte sein Vater etwas auf der Schreibmaschine. Ich hatte Kopfschmerzen und schlief ein. Wenn es brennt, schlafen die Menschen fester als sonst … Als ich ihn verließ, las er Puschkin … Timka, unser Hund, lag im Flur. Er bellte nicht und jaulte nicht. Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging; als ich die Augen öffnete, saß mein Mann bei mir. »Wo ist Igor?« »Er hat sich im Bad eingeschlossen. Murmelt bestimmt Gedichte vor sich hin.« Eine wilde, animalische Angst jagte mich hoch. Ich rannte zum Bad, klopfte, hämmerte gegen die Tür. Mit Händen und Füßen. Stille. Ich rief, schrie, flehte. Stille. Mein Mann suchte einen Hammer, eine Axt. Brach die Tür auf … In einer alten Hose, einem Pulli und Hausschuhen … An einem Gürtel … Ich riss ihn herunter, trug ihn raus. Er war weich und warm. Wir versuchten es mit künstlicher Beatmung. Riefen den Notarzt …
    Wie hatte ich schlafen können? Warum hatte Timka nichts gespürt? Hunde sind doch so sensibel, sie hören zehnmal besser als wir. Warum … Ich saß da und starrte vor mich hin. Sie gaben mir eine Spritze, und ich sank in Schlaf. Am Morgen wurde ich geweckt. »Vera, steh auf. Sonst verzeihst du dir das nicht.« Na warte, gleich kannst du was erleben für diesen Streich. Dich knöpf ich mir vor, dachte ich. Und dann begriff ich, dass ich ihn mir nicht mehr vorknöpfen konnte.
    Er liegt im Sarg … Er trägt den Pullover, den ich ihm zum Geburtstag schenken wollte …
    Ich fing nicht gleich an zu schreien … erst nach ein paar Monaten … Aber ich hatte keine Tränen. Ich schrie, aber ich weinte nicht. Nur als ich einmal ein Glas Wodka getrunken hatte, fing ich an zu weinen. Ich begann zu trinken, um zu weinen … ich klammerte mich an die Menschen … Bei einer befreundeten Familie saßen wir ganze zwei Tage. Heute ist mir klar, wie schwer das für sie war, wie sehr wir sie damit gequält haben. Wir flohen aus unserer Wohnung … In der Küche ging der Stuhl kaputt, auf dem er immer gesessen hatte, doch ich rührte ihn nicht an, ich ließ ihn stehen – womöglich würde es ihm nicht gefallen, wenn ich etwas wegwürfe, an dem er hing? Die Tür zu seinem Zimmer konnten mein Mann und ich nicht öffnen. Zweimal wollten wir die Wohnung tauschen, hatten schon alle Papiere beschafft, Leuten Hoffnungen gemacht, packten unsere Sachen. Doch ich kann hier nicht ausziehen, ich habe das Gefühl, dass er hier irgendwo ist, ich kann ihn nur nicht sehen … Aber er ist hier irgendwo … Ich lief durch Geschäfte und wählte Sachen für ihn aus: Die Hose da, das ist genau seine Farbe, und das Hemd. In irgendeinem Frühling … im wievielten, weiß ich nicht mehr … Da komme ich nach Hause und sage zu meinem Mann: »Weißt du was, heute hat mich ein Mann angesprochen. Er wollte sich mit mir verabreden.« Und mein Mann antwortet: »Das freut mich sehr für dich, Verotschka. Du kehrst zurück …« Ich war ihm unendlich dankbar für diese Worte. Ich möchte noch etwas über meinen Mann sagen … Er ist Physiker, und unsere Freunde necken uns immer: »Habt ihr ein Glück – ein Physiker und eine Lyrikerin.« Ich habe ihn geliebt … Warum geliebt und nicht »liebe«? Weil ich die, die ich jetzt bin, die überlebt hat, noch nicht kenne. Ich fürchte … ich bin nicht bereit … ich kann nicht mehr glücklich sein …
    Eines Nachts liege ich mit

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