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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Kräfte schwanden – ich klammerte mich an ihn, ganz fest. Er schrie: »Lass los!« »Ich kann nicht!« Ich klammerte mich an ihn und zog ihn hinab. Irgendwie riss er sich los und stieß mich vor sich her, zum Ufer. Hielt mich fest und stieß mich vor sich her. So kamen wir beide ans Ufer. Im Traum wiederholt sich das Ganze, aber ich lasse ihn nicht los. Wir ertrinken nicht und schwimmen auch nicht ans Ufer. Ein heftiges Handgemenge im Wasser … Der zweite Traum – es fängt an zu regnen, aber ich spüre, das ist kein Regen, vom Himmel fällt Erde. Sand. Es fängt an zu schneien, aber ich höre am Rascheln, dass das kein Schnee ist, sondern Erde. Eine Schaufel klopft wie ein Herz – poch-poch, poch-poch …
    Wasser … Wasser faszinierte ihn … Er liebte Seen, Flüsse, Brunnen. Und besonders das Meer. Er hat viele Gedichte über das Wasser geschrieben. »Nur ein stiller, sanfter Stern wurde weiß, wie Wasser ist. Finsternis.« Und: »Einsam fließt das Wasser, kühl. Es ist still.« (Pause.) Wir fahren jetzt nicht mehr ans Meer.
    Das letzte Jahr … Wir saßen abends oft zusammen beim Essen. Wir sprachen natürlich über Bücher. Lasen gemeinsam Samisdat-Literatur … Doktor Shiwago , die Gedichte von Mandelstam … Ich erinnere mich, dass wir einmal darüber stritten, was ein Dichter ist. Wie sein Schicksal in Russland aussieht. Igors Meinung: »Ein Dichter muss früh sterben, sonst ist er kein Dichter. Ein alter Dichter ist einfach lächerlich.« Ja … auch das habe ich überhört … Habe dem keine Bedeutung beigemessen. Aus mir purzelten die Verse meist wie aus einem Weihnachtsmannsack … Fast jeder russische Dichter hat über die Heimat geschrieben. Ich kenne vieles auswendig. Ich rezitierte meinen geliebten Lermontow: »Ich lieb mein Vaterland – auf sonderbare Art.« Und Jessenin: »Doch ich liebe dich, sanfte Heimat!« 11 Ich war glücklich, als ich die Briefe von Alexander Block gekauft hatte … Einen ganzen Band! Sein Brief an die Mutter nach seiner Rückkehr aus dem Ausland … Er schreibt, Russland habe ihm sogleich seine Schweineschnauze und sein göttliches Antlitz gezeigt … Ich legte die Betonung natürlich auf das göttliche Antlitz … (Ihr Mann kommt herein. Er umarmt sie und setzt sich neben sie.) Was noch? Igor ist nach Moskau gefahren, ans Grab von Wyssozki. Er hat sich den Kopf kahlgeschoren und sah plötzlich Majakowski sehr ähnlich. (Sie wendet sich an ihren Mann.) Erinnerst du dich? Wie ich mit ihm geschimpft habe? Er hatte wunderschöne Haare.
    Der letzte Sommer … Er war braungebrannt. Groß und stark. Die meisten schätzten ihn auf achtzehn. In den Ferien fuhr ich mit ihm nach Tallinn. Er war zum zweiten Mal dort und führte mich überall herum, in alle möglichen Gassen und Winkel. In drei Tagen verprassten wir einen Haufen Geld. Wir übernachteten in einem Wohnheim. Einmal kamen wir von einem nächtlichen Spaziergang durch die Stadt nach Hause – Hand in Hand, lachend, öffneten wir die Tür. Die Pförtnerin wollte uns nicht reinlassen: »Nach elf dürfen Sie hier nicht mit einem Mann rein.« Ich flüsterte Igor ins Ohr: »Geh schon hoch, ich komme gleich nach.« Er ging, und ich leise zu ihr: »Dass Sie sich nicht schämen! Das ist doch mein Sohn!« Es war alles so heiter … so schön! Plötzlich bekam ich dort … in der Nacht … Angst. Angst, ihn nie wiederzusehen. Angst vor etwas Neuem. Da war noch nichts passiert.
    Der letzte Monat … Mein Bruder war gestorben. In unserer Familie gibt es nur wenige Männer, und ich nahm Igor zur Unterstützung mit. Wenn ich gewusst hätte … Er interessierte sich doch für den Tod, er interessierte sich dafür … »Igor, stell die Blumen woandershin. Hol Stühle. Geh Brot holen.« Diese Normalität im Umfeld des Todes … die ist gefährlich … Da kann man den Tod leicht mit dem Leben verwechseln. Das ist mir jetzt klar … Der Bus kam. Alle Angehörigen saßen schon, aber mein Sohn fehlte. »Igor, wo bist du? Komm her.« Er stieg ein – alle Plätze waren besetzt. Ein Omen nach dem anderen … Durch den Ruck oder was … Der Bus fuhr an, und mein Bruder öffnete für einen Moment die Augen. Ein schlechtes Omen – in der Familie würde es bald noch einen Toten geben. Wir machten uns sofort Sorgen um meine Mutter, um ihr krankes Herz. Als der Sarg in die Grube hinuntergelassen wurde, fiel etwas mit hinein … Auch ein ungutes Zeichen …
    Der letzte Tag … Am Morgen. Ich wasche mich und spüre: Er steht in der Tür, hält sich

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