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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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offenen Augen da. Es klingelt. Ich höre das Klingeln deutlich. Am Morgen erzähle ich meinem Mann davon. Er: »Ich habe nichts gehört.« In der Nacht klingelt es wieder. Ich schlafe nicht, ich schaue zu meinem Mann hinüber – auch er ist aufgewacht. »Hast du das gehört?« »Ja.« Wir haben beide das Gefühl, nicht allein in der Wohnung zu sein. Auch Timka läuft immer um das Bett herum, als verfolgte er eine Spur. Ich falle – in etwas Warmes. Und träume … Igor kommt mir entgegen, in dem Pullover, in dem wir ihn begraben haben. »Mama, du rufst nach mir und begreifst nicht, wie schwer es mir fällt, zu dir zu kommen. Hör auf zu weinen.« Ich berühre ihn, er ist ganz weich. »Hast du dich wohl gefühlt zu Hause?« »Ja, sehr.« »Und dort?« Er kommt nicht mehr zum Antworten, er verschwindet. Seit jener Nacht weine ich nicht mehr. Und wenn ich jetzt von ihm träume, ist er noch klein. Doch ich warte auf ihn als großen Jungen, damit ich mit ihm reden kann …
    Das war kein Traum. Ich hatte gerade die Augen geschlossen … Die Zimmertür ging weit auf, und für einen Moment kam er herein, als Erwachsener, wie ich ihn nie gesehen hatte. An seinem Gesicht sah ich sofort: Alles, was hier geschieht, ist ihm längst gleichgültig. Unsere Gespräche über ihn, unsere Erinnerungen. Er ist schon ganz weit fort. Aber ich kann die Verbindung nicht abreißen lassen. Ich kann es nicht … Ich habe lange überlegt … und beschlossen, noch ein Kind zu bekommen … Die Ärzte rieten mir ab, sie befürchteten, es sei schon zu spät, aber ich bekam ein Kind. Ein Mädchen. Wir behandeln sie, als wäre sie nicht unsere Tochter, sondern die von Igor. Ich habe Angst, sie so zu lieben … wie ich ihn geliebt habe … und ich kann sie nicht so lieben. Ach, ich bin doch verrückt! Verrückt! Ich weine viel und gehe dauernd auf den Friedhof. Die Kleine ist immer bei mir, aber ich kann nicht aufhören, an den Tod zu denken. Das geht doch nicht. Mein Mann sagt, wir sollten weggehen. In ein anderes Land. Wo alles neu wäre: die Landschaft, die Menschen, das Alphabet. Freunde sagen, wir sollen nach Israel kommen. Sie rufen oft an. »Was hält euch dort?« (Sie schreit fast.) Was? Was?
    Mich beschäftigt ein schrecklicher Gedanke: Vielleicht würde er Ihnen eine ganz andere Geschichte erzählen … Eine ganz andere …
Aus Gesprächen mit Freunden
     
»Dieser wunderbare Klebstoff hielt alles zusammen …«
     
    Wir waren damals noch ganz jung … Die Jugend, das ist eine furchtbare Zeit, ich weiß nicht, wer behauptet hat, das sei ein herrliches Alter. Du bist linkisch, unbeholfen, du willst aus allem ausbrechen, du bist von allen Seiten ungeschützt. Und für deine Eltern bist du noch immer die Kleine, sie machen Pläne für dich. Du bist ständig wie unter einer Glocke, und niemand kann zu dir durchdringen. Ein Gefühl … ich erinnere mich gut an dieses Gefühl … Ein Gefühl wie damals im Krankenhaus, als ich in einer Box unter Glas lag. Mit irgendeiner Infektion. Die Eltern tun so (glaubst du jedenfalls), als wollten sie bei dir sein, in Wirklichkeit aber leben sie in einer ganz anderen Welt. Sie sind weit weg … scheinbar bei dir, aber im Grunde weit weg … Die Eltern ahnen nicht, wie ernst bei ihren Kindern alles ist. Die erste Liebe – das ist schrecklich. Lebensgefährlich. Meine Freundin glaubte, Igor hätte sich aus Liebe zu ihr umgebracht. Unsinn! Kleinmädchenquatsch … Alle unsere Mädchen waren in ihn verliebt. O ja! Er sah sehr gut aus, und er verhielt sich, als wäre er älter als wir alle, aber man hatte das Gefühl, dass er sehr einsam war. Er schrieb Gedichte. Und ein Dichter muss frieren und einsam sein. Bei einem Duell sterben. Wir alle hatten viel jugendlichen Blödsinn im Kopf.
    Das waren noch die sowjetischen Jahre … die kommunistischen … Leitbilder für unsere Erziehung war Lenin, waren die glühenden, die heftig glühenden Revolutionäre, wir betrachteten die Revolution nicht als einen Fehler, interessierten uns aber auch nicht sonderlich für das marxistisch-leninistische Zeug. Die Revolution war schon etwas Abstraktes … Am besten erinnere ich mich an die Feiertage und die Vorfreude darauf. Daran erinnere ich mich ganz deutlich … Die Straßen voller Menschen. Aus Lautsprechern tönen irgendwelche Worte, die einen glauben diesen Worten absolut, andere teilweise, manche gar nicht. Aber alle scheinen glücklich zu sein. Es gibt viel Musik. Meine Mutter ist noch jung und schön. Das alles zusammen

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