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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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»Sie lebt!?« »Vor einem Jahr hat sie noch gelebt. Wir haben eine Zeitlang zusammen im Schweinestall gearbeitet. Wir stahlen den Schweinen gefrorene Kartoffeln, deshalb sind wir nicht krepiert. Ob sie jetzt noch lebt, weiß ich nicht.« Sie ging rasch wieder. Ich habe sie nicht aufgehalten … die Gäste sollten gleich kommen … (Er schweigt.) Die Kremluhr schlug. Wir öffneten den Sekt. Der erste Trinkspruch: »Auf Stalin!« Ja-a-a …
    … Das Jahr 1941 …
    Alle weinten … Aber ich schrie vor Glück – Krieg! Ich werde an die Front gehen! Das werden sie mir doch erlauben. Sie werden mich hinschicken … Ich meldete mich. Und wurde lange nicht genommen. Der Chef des Wehrbezirks war ein Bekannter von mir. »Ich kann nicht. Ich bin an die Vorschriften gebunden – ›Feinde‹ darf ich nicht nehmen.« »Wer ist hier ein Feind? Ich bin ein Feind?« »Deine Frau verbüßt eine Lagerhaft nach Paragraph 58 – konterrevolutionäre Tätigkeit.« Kiew fiel … Kämpfe bei Stalingrad … Ich beneidete jeden in Militäruniform – er verteidigte die Heimat! Junge Mädchen gingen an die Front … Und ich? Ich schrieb einen Brief an das Kreiskomitee der Partei: Erschießt mich oder schickt mich an die Front! Zwei Tage später wurde mir die Einberufung ausgehändigt – binnen vierundzwanzig Stunden sollte ich mich am Sammelpunkt einfinden. Der Krieg war meine Rettung … die einzige Chance, meinen ehrlichen Namen wiederherzustellen. Ich freute mich.
    … An die Revolution erinnere ich mich gut. Aber an später, entschuldigen Sie, schon schlechter. Sogar an den Krieg erinnere ich mich weniger gut, obwohl er noch nicht so lange zurückliegt. Ich weiß noch, dass sich nichts verändert hatte. Nur Waffen hatten wir gegen Kriegsende andere – nicht mehr Säbel und Gewehre, sondern »Katjuschas«. Aber das Soldatenleben? Genau wie früher aßen wir jahrelang Graupensuppe und Weizenbrei, trugen monatelang dieselbe Unterwäsche. Konnten uns nicht waschen. Schliefen auf der nackten Erde. Wären wir anders gewesen, wie hätten wir dann siegen können?
    … wir stürmten ins Gefecht … Sie beschossen uns aus Maschinengewehren! Alle warfen sich auf den Boden … Da feuerte noch ein Granatwerfer los, die Menschen wurden in Stücke gerissen. Neben mir lag der Kommissar: »Was liegst du hier rum, Kontra! Los, vorwärts! Sonst knall ich dich ab!«
    … Bei Kursk traf ich auf meinen Vernehmer … Den ehemaligen Schuldirektor … Ich dachte: Na, du Schwein, jetzt habe ich dich in der Hand. Im Gefecht knalle ich dich klammheimlich ab! Das war so! Ja, ja … Ich wollte … Aber ich kam nicht dazu … (Er schweigt.) Wir haben sogar einmal miteinander gesprochen. »Wir haben beide dieselbe Heimat« – seine Worte. Er war ein tapferer Mann. Voller Heldenmut. Er ist bei Königsberg gefallen. Was soll ich sagen … Ich kann sagen … ich dachte: Gott hat mir meine Arbeit abgenommen … Da will ich nicht lügen …
    Zweifach verwundet bin ich heimgekehrt. Mit drei Orden und Medaillen. Ich wurde ins Kreisparteikomitee bestellt: »Ihre Frau können wir Ihnen leider nicht zurückgeben. Ihre Frau ist gestorben. Aber die Ehre geben wir Ihnen zurück …« Sie gaben mir mein Parteibuch wieder. Und ich war glücklich! Ich war glücklich …
     
    Ich sage ihm, dass ich das niemals verstehen werde. Er explodiert.
     
    Man darf uns nicht nach den Gesetzen der Logik beurteilen. Ihr Buchhalter! Verstehen Sie doch! Uns kann man nur nach den Gesetzen der Religion beurteilen. Des Glaubens! Ihr werdet uns noch mal beneiden! Was habt ihr denn Großes? Nichts. Nur den Komfort. Alles für den Bauch … für den Zwölffingerdarm … Sich den Bauch vollschlagen und sich mit Klunkern behängen … Aber ich … meine Generation … Alles, was ihr heute habt, haben wir aufgebaut. Die Betriebe, die Staudämme … die Kraftwerke … Und wo ist eures? Auch Hitler haben wir besiegt. Nach dem Krieg … Wenn irgendwem ein Kind geboren wurde – das war eine Freude! Eine andere Freude als vor dem Krieg. Eine andere. Manchmal habe ich sogar geweint … (Er schließt die Augen. Er ist erschöpft.) Ach … Wir haben geglaubt … Und jetzt kommen Sie und sagen, wir hätten an eine Utopie geglaubt … Mein Lieblingsbuch ist der Roman Was tun? von Tschernyschewski … Den liest heute keiner mehr … Langweilig. Die meisten lesen nur den Titel – die ewige russische Frage: Was tun? Aber für uns war das ein Katechismus. Ein Lehrbuch der Revolution. Ganze Seiten lernten wir

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