S.E.C.R.E.T. 1
nein. Ruf mich später an, ja? Aber ich bleibe, ich bin am Verhungern«, sagte Matilda. Sie erhob sich, um ihre leidgeprüfte Begleiterin zum Abschied zu umarmen.
Ich spürte Paulines Erleichterung und zugleich Verärgerung. Sie hatte das Notizbuch zwar zurückbekommen, aber sie wusste, dass es nun irgendwo irgendjemanden gab, der ihr Geheimnis kannte. Sie konnte es scheinbar kaum erwarten, endlich hier herauszukommen. Nach einer kurzen Umarmung stürzte sie förmlich zur Tür.
Matilda hingegen machte es sich wieder auf ihrem Stuhl bequem – entspannt wie eine Katze in der Sonne. Ich sah mich im Restaurant um. Es war etwa drei Uhr, und es war fast leer. Meine Schicht würde schon bald vorüber sein. »Ich bin mit Ihrem Tee gleich wieder da«, sagte ich. »Die Speisekarten sind da hinten an der Wand.« Ich wandte mich zum Gehen.
»Danke, Cassie«, antwortete sie.
Ich hatte das Gefühl, als hätte mir jemand einen Schlag in die Magengrube versetzt. Sie kannte meinen Namen. Woher? Ich unterschrieb meine Rechnungen. Und Pauline war Stammgast hier. Daher. Ganz sicher.
Meine restliche Schicht ging ohne weitere Vorkommnisse vorüber. Matilda nippte an ihrem Tee und sah aus dem Fenster. Sie bestellte ein Sandwich mit Ei und Salat, serviert mit eingelegten Gurken, von denen sie die Hälfte aß. Außer den höflichen Worten zwischen Kellnerin und Kundin sprachen wir nicht mehr miteinander. Ich gab ihr die Rechnung und sie mir ein hübsches Trinkgeld.
Deshalb erschrak ich auch ziemlich, als ich Matilda am nächsten Tag nach der geschäftigen Mittagsstunde wieder reinkommen sah – diesmal allein. Sie winkte mir zu und deutete auf einen Tisch. Ich nickte und bemerkte, dass meine Hände leicht zitterten, während ich zu ihr hinüberging. Was machte mich nur so nervös? Selbst wenn ihr klar war, dass ich gelogen hatte – was war so schlimm an dem, was ich getan hatte? Kein normaler Mensch hätte der Lektüre eines Buches mit solch faszinierendem Inhalt widerstehen können! Außerdem konnte vielleicht Pauline das Gefühl haben, dass ihre Privatsphäre verletzt worden war, aber das galt nicht für diese Frau.
»Hallo, Cassie«, sagte sie und schenkte mir ein warmherziges Lächeln.
Diesmal konnte ich ihr Gesicht aufmerksamer betrachten. Sie hatte leuchtend dunkelbraune, große Augen und eine makellose Haut. Sie trug nur ein ganz dezentes Make-up, wodurch sie jünger wirkte, als sie wahrscheinlich war. Jetzt vermutete ich, dass sie Ende fünfzig war. Sie hatte ein herzförmiges Gesicht, das an ihrem Kinn spitz zulief. Sie war, offen gesagt, außergewöhnlich schön. Sie trug heute Schwarz – enge Hosen, die einen durchtrainierten Körper umhüllten, und ein Strick-Top, das sich auf verführerische Weise an ihren Oberkörper schmiegte. Dazu wieder das goldene Armband mit den Anhängern, das sich glänzend vom schwarzen Ärmel ihres Oberteils abhob.
»Hallo noch einmal«, begrüßte ich sie und schob ihr eine Speisekarte hin.
»Ich nehme das Gleiche wie gestern.«
»Grünen Tee, Sandwich mit Ei und Salat?«
»Genau.«
Ein paar Minuten später brachte ich ihr den Tee und das Sandwich. Als sie mich bat, ihr neues heißes Wasser zu bringen, tat ich auch dies. Nachdem sie aufgegessen hatte und ich abräumen wollte, lud sie mich ein, sich zu ihr an den Tisch zu setzen. Ich erstarrte.
»Nur eine Sekunde«, sagte sie und deutete auf den leeren Stuhl an ihrem Tisch.
»Ich muss arbeiten«, erwiderte ich. Ich fühlte mich bedrängt und in die Enge getrieben. Durch die Durchreiche hinter der Bar konnte ich Dell in der Küche sehen. Was, wenn diese Frau mir Fragen über das Notizbuch stellte?
»Ich bin sicher, dass Will nichts dagegen hat, wenn Sie sich kurz zu mir setzen«, antwortete Matilda. »Schließlich ist momentan nichts los.«
»Sie kennen Will?«, fragte ich und ließ mich langsam in den Stuhl sinken.
»Ich kenne viele Leute, Cassie. Aber Sie kenne ich nicht.«
»Na ja, so interessant bin ich auch nicht. Ich bin nur ich selbst, nur eine Kellnerin und … das ist auch schon alles, wirklich.«
»Keine Frau ist nur Kellnerin oder nur Lehrerin oder nur Mutter.«
»Ich bin nur Kellnerin. Und vielleicht noch Witwe. Aber in der Hauptsache Kellnerin.«
»Witwe? Das tut mir leid. Sie stammen nicht aus New Orleans. Ihr Akzent sagt mir, dass Sie aus dem mittleren Westen kommen. Illinois?«
»Beinahe. Michigan. Wir sind vor sechs Jahren hergezogen. Mein Mann und ich. Bevor er starb. Natürlich. Hm, woher kennen Sie
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