See der Schatten - Kriminalroman (German Edition)
wissen, dass meine Schwester kein depressiver Mensch war«, erklärte Ryan. »Im Gegenteil, sie war lebenslustig und äußerst pragmatisch veranlagt. Wenn sie Probleme gehabt hätte, hätte sie versucht, sie zu lösen. Außerdem hätte sie niemals alles mit sich allein ausgemacht. Sie konnte noch nie ein Geheimnis für sich behalten.« Er lachte freudlos auf. »Aber ich habe mit fast allen ihren alten Freunden gesprochen. Keiner von ihnen wusste davon, dass ihr irgendetwas Sorgen gemacht haben könnte.«
»Vielleicht hatte sie Heimweh, sie war doch gerade erst von der Ostküste hierher gezogen«, wandte Tess ein.
Ryan zuckte die Schultern. »Schon möglich. Aber wie ich Susannah kannte, hätte sie einfach ihren Job geschmissen und wäre mit Sack und Pack nach Boston zurückgekehrt, wenn sie sich in Oregon überhaupt nicht wohlgefühlt hätte. Weder sie noch meine Mutter oder ich hätten ein Problem damit gehabt.« Nach einer kleinen Pause fuhr er fort: »Außerdem glaube ich nicht wirklich, dass es ihr in ihrem neuen Job schlecht ging.« Er erzählte von ihrem Brief, den er beim Ausräumen der Wohnung seiner Mutter entdeckt hatte. Auch die merkwürdige Anrede in Susannahs Abschiedsbrief, der sowohl an ihre Mutter als auch an den schon lange verstorbenen Vater gerichtet war, erwähnte er.
Tess hörte aufmerksam zu. »Naja, wie Sheriff Marcks schon sagte, manchmal gibt es vielleicht einzelne Ungereimtheiten bei Selbstmorden«, sagte sie, nachdem er seinen Bericht beendet hatte. Sie blickte auf. »Aber ich finde, Sie haben recht. In diesem Fall sind es eindeutig zu viele.« Einen Moment kämpfte sie mit sich, wie viel sie ihm anvertrauen konnte, entschied sich dann aber, alles zu sagen, was sie bisher herausgefunden hatte.
»Ich denke, es gibt da noch etwas, was Sie wissen sollten.« Sie schluckte. Es fiel ihr nicht leicht, über Ellen zu sprechen. »Als ich den Schreibtisch meiner Tante durchgegangen bin, habe ich einen Ordner mit ziemlich aufschlussreichen Unterlagen gefunden. Es waren zum einen die Ermittlungsakten zum Tod von Joanna. Jemand vom Büro des Sheriffs muss sie ihr heimlich zugespielt haben. Aber zum anderen hatte meine Tante auch viele eigene Notizen gemacht. Teilweise war es etwas verworren. Wie gesagt, hat Ellen ja ständig ihre eigenen Theorien aufgestellt und jeden und alle in Shadow Lake mit dem Mord in Verbindung gebracht.« Tess grinste entschuldigend. »Aber eine Sache hat mich doch stutzig gemacht.«
Sie holte einmal tief Luft, während Ryan sie interessiert ansah und darauf wartete, dass sie weitersprach.
»Also, meine Tante hat eine Liste mit Namen und Daten aufgestellt und sie als Todesliste bezeichnet. Sie begann mit dem Namen und dem Todesdatum von Joanna.« Wieder zögerte Tess kurz. »Und als letzter Name stand der von Susannah auf der Liste.«
»Was? Meine Schwester? Das verstehe ich nicht.« Ryan starrte sie eine Weile verwirrt an. »Was stand noch auf der Liste?«, wollte er schließlich wissen.
»Nicht viel«, gab Tess zu. »Es waren noch zwei weitere Namen. Der eine war Millie Walls. Millie war auch eine Freundin von mir, die ungefähr ein Jahr nach Joannas Tod verschwunden ist. Bisher habe ich immer geglaubt, sie hätte ihre Sachen gepackt und wäre aus Shadow Lake abgehauen, irgendwohin in die Großstadt. Doch inzwischen bin ich mir da ehrlich gesagt nicht mehr so sicher. Es könnte alles Mögliche mit ihr passiert sein. Soweit ich weiß, hat nie jemand nach ihr gesucht.« Sie zuckte die Achseln.
»Und der andere Name?«, hakte Ryan nach.
»Claire Meyers«, gab Tess knapp zurück. »Sie ist vor drei Jahren hier im See ertrunken. Angeblich war es ein Unfall.«
Ryan zog skeptisch die Augenbrauen hoch. »Sind das nicht ein paar tote Frauen zu viel für so einen kleinen Ort?«, fragte er.
Tess nickte. »Der Gedanke ist mir auch schon gekommen. Nur hat meine Tante leider nicht dazugeschrieben, was genau sie herausgefunden hat.«
»Nun, aber irgendeinen Zusammenhang hat sie ja gesehen«, überlegte Ryan. Er war inzwischen aufgestanden und blickte nachdenklich auf den See hinaus. »Und der müsste doch irgendwie herauszufinden sein. Ich habe zwar noch überhaupt keine Ahnung, um was es hier überhaupt gehen könnte, aber diesmal werde ich mich nicht mit ein paar läppischen Erklärungsversuchen abspeisen lassen.« Er drehte sich um und sah Tess direkt in die Augen. »Ich denke, mit vereinten Kräften können wir vielleicht herausfinden, was wirklich passiert ist. Wie sieht es
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