See der Schatten - Kriminalroman (German Edition)
Mädels würden unser Leben lang zusammenbleiben. Aber jetzt werden wir immer weniger«, hatte sie traurig gesagt. Doch dann hatte sie sich zusammengerissen und tapfer gelächelt. »Naja, wie auch immer, ich werde dich auf jeden Fall im Auge behalten, und wenn du erst mal in irgendeinem Vorstandsbüro in der obersten Etage eines Wolkenkratzers sitzt, erwarte ich natürlich eine Einladung.« Sie hatte eine Grimasse gezogen, als sie hinzugefügt hatte: »Was mich selbst angeht, habe ich das Gefühl, dass ich mich wahrscheinlich bis zum Ende meines Lebens mit einem elenden Kellnerjob durchschlagen werde.«
Damals hatte Tess ihr noch vehement widersprochen, ihr Mut gemacht, etwas aus ihrem Leben zu machen.
Aber du hast tatsächlich recht behalten, dachte sie jetzt. Du hast wirklich bis zum Ende deines Lebens gekellnert. Nur konnte damals noch keiner von ihnen ahnen, dass dieses Ende so schnell kommen würde.
Tess rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht, als plötzlich eine Stimme hinter ihr ertönte: »Tess? Tess Hennessey? Du bist es ja wirklich!«
Verwirrt drehte Tess sich um. Sie war noch so in ihre Gedanken über Millie vertieft, dass sie zuerst Mühe hatte zu erkennen, wer sie da angesprochen hatte.
»Justin?«, fragte sie schließlich, immer noch ziemlich durcheinander.
»Na, und ich dachte schon, du erkennst mich nicht«, lachte der große blonde Mann und nahm sie überschwänglich in die Arme. »Ich freue mich, dich zu sehen. Ich habe ja schon gehört, dass du seit ein paar Tagen wieder hier bist.« Er schob sie ein Stück von sich weg und musterte sie eingehend. »Gut siehst du aus«, stellte er dann fest.
»Danke.« Tess gab das Kompliment nicht zurück, obwohl es sicher angebracht gewesen wäre. Justin Ciprati war schon immer einer der bestaussehenden Typen gewesen, die sie kannte. Er war groß und sportlich, hatte dichte blonde Haare und regelmäßige Gesichtszüge. Das Auffälligste an ihm waren aber seine unglaublich blauen Augen. Es hatte einmal ein paar Wochen in ihrer Schulzeit gegeben, da hatte Tess sehr häufig an diese Augen denken müssen, wie wahrscheinlich fast alle Mädchen ihres Alters in Shadow Lake. Dann war Justin aber mit Shannon ausgegangen und Tess hatte ihre Schwärmerei schnell wieder aufgegeben.
»Ich finde es ziemlich merkwürdig, dass wir uns bisher noch nicht über den Weg gelaufen sind«, bemerkte Justin grinsend. »Hast du dich in irgendeinem Loch verkrochen, um dich vor mir zu verstecken?«
»Warum sollte ich?«, erwiderte Tess. Sie bemühte sich, einigermaßen normal zu klingen. »Ich muss mich doch nicht verstecken. Immerhin war ich auch schon bei deiner Frau und hab mich ein bisschen verschönern lassen.«
Justin nickte. »Ich weiß, Shannon hat mir davon erzählt. Sie hat sich sehr gefreut, dich mal wieder zu treffen.« Dann kniff er die Augen zusammen und betrachtete forschend ihr Gesicht. »Du siehst ein bisschen blass um die Nase aus, ist alles in Ordnung mit dir?«
Noch bevor Tess antworten konnte, schlug er sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Natürlich, wie blöd von mir«, meinte er betreten. »Ich habe gar nicht mehr daran gedacht, aus welchem Grund du nach Shadow Lake gekommen bist. Es tut mir wirklich leid, was mit deiner Tante passiert ist. Da ist es ja kein Wunder, dass es dir nicht besonders gut geht«
Tess nickte. Sie hatte den Eindruck, echtes Mitgefühl in seinem Gesichtsausdruck zu sehen, und das brachte sie noch mehr aus der Fassung als alle geheuchelten Beileidsbekundungen, die sie sich bisher hatte anhören müssen. Plötzlich liefen ihr Tränen über die Wangen.
»Danke, aber ehrlich gesagt geht es im Moment gar nicht um Ellen«, brachte sie mühsam hervor. »Der Flugzeugabsturz war ein riesiger Schock, und ich bin natürlich traurig über ihren Tod. Aber inzwischen kann ich ganz gut damit umgehen.«
Justin runzelte die Stirn. »Aber irgendetwas belastet dich, das ist doch kaum zu übersehen«, bohrte er nach.
Tess nickte bekümmert. »Es geht um Millie Walls«, begann sie, schaffte es jedoch nicht, noch mehr zu sagen. Sie presste sich die Hand auf den Mund und schluchzte auf.
In einer tröstenden Geste legte Justin ihr die Hand auf die Schulter. Einen Moment lang schien er nicht zu wissen, was er sagen sollte. »Was ist denn mit Millie?«, fragte er schließlich.
Tess schüttelte den Kopf. Sie brauchte ein paar Sekunden, bis sie sich so weit gefasst hatte, dass sie weitersprechen konnte. Erst stockend, dann immer flüssiger
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