See der Schatten - Kriminalroman (German Edition)
Freunde oder Verwandte in der Gegend gehabt hätte, hätte er es ja noch nachvollziehen können, aber das war anscheinend nicht der Fall. Es kam ihm beinahe so vor, als wäre er vor irgendetwas auf der Flucht.
Am Morgen hatte Ryan im Internet nach dem Namen von Tess` Nachbarn gesucht und hatte eine Menge Treffer gefunden. Neben der Erwähnung in einigen Zeitungsmeldungen, dass er Susannahs Leiche am Shadow Lake gefunden hatte, waren vor allem zahlreiche Artikel, die Greg Koborski geschrieben hatte, im Ergebnis der Suchmaschine aufgetaucht.
Ryan hatte sich einige der Artikel durchgelesen. Es handelte sich hauptsächlich um politische Satire, aber auch einige Hintergrundberichte über aktuelle politische Themen hatte Koborski verfasst. Mit Verwunderung hatte Ryan festgestellt, dass er als Autor nicht nur über einen scharfen Verstand, sondern auch über eine außerordentlich spitze Feder verfügte. Er hatte selten so intelligente, pointierte Kommentare gelesen.
Über die Vergangenheit von Koborski hatte er allerdings nichts gefunden. Dabei hatte er genau darauf gehofft. Vor allem die Bemerkung von Hank Friday, Koborski hätte zwei Menschen auf dem Gewissen, ließ Ryan keine Ruhe mehr. Irgendwie traute er dem Kerl nichts Gutes zu, obwohl er ihn bisher nur vom Sehen kannte. Deshalb hatte er kurzerhand beschlossen, sich selbst einen Eindruck von ihm zu machen.
Noch einmal klopfte Ryan an die Tür, diesmal ein wenig lauter und energischer. Wieder war im Inneren des Hauses kein Geräusch zu hören. Ryan wollte sich gerade umdrehen und zur Straße zurückgehen, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde.
»Ja?«, blaffte ihm Koborski entgegen. Er war barfuß, hatte nur eine Jeans und ein weißes Unterhemd an. Auf seinem Gesicht zeigten sich lange schwarze Bartstoppeln und das fettige Haar war unordentlich nach hinten frisiert.
»Mr Koborski?«, fragte Ryan höflich.
»Wer will das wissen?«, kam es barsch zurück.
»Mein Name ist Ryan MacIntyre«, stellte sich Ryan vor und hielt Koborski zur Begrüßung die Hand hin. Als dieser sie völlig ignorierte, ließ er sie wieder sinken. »Ich weiß nicht, ob Sie es mitbekommen haben, dass gestern am späten Abend jemand einen Pflasterstein durch das Fenster des Nachbarhauses geworfen hat. Ich wollte Sie fragen, ob Sie vielleicht irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt haben.«
Koborski starrte ihn misstrauisch an. »Was geht Sie das an?«, fragte er kalt.
Ryan holte einmal tief Luft. Er musste sich zusammenreißen, um nicht selber ausfallend zu werden. »Zufällig bin ich mit Tess Hennessey befreundet und war gestern Abend auch im Haus«, erklärte er knapp.
»Ich habe nichts gesehen. War am See spazieren«, knurrte Koborski. »War` s das jetzt?«
»Nur eine Sache noch«, warf Ryan schnell ein, bevor Koborski ihn einfach stehen lassen konnte. »Ich habe im Polizeibericht gelesen, dass Sie es waren, der meine Schwester Susannah damals am Shadow Lake gefunden hat.« Als er sah, wie Koborskis Miene sich verdüsterte, fügte er hinzu: »Ich würde gern von Ihnen hören, wie es dazu kam.«
Einen Moment starrte Koborski ihn mit einem unergründlichen Ausdruck in den Augen an.
»Steht alles in den Akten«, stieß er dann hervor und knallte so kräftig die Tür zu, dass die Scheiben in den wackeligen Fensterrahmen klirrten.
38. Kapitel
Als Tess später wieder ins Lakeview Inn zurückkehrte, war sie froh, Ryans Mietwagen auf dem Parkplatz des Hotels stehen zu sehen. Das bedeutete, dass er bereits aus Medford zurück war. Er hatte den Tag dazu nutzen wollen, sich mit Susannahs früheren Arbeitskollegen zu treffen und sie noch einmal gründlich auszuhorchen. Zum Glück schien das nicht sehr lange gedauert zu haben, dachte Tess. Nach allem, was gerade passiert war, wollte sie jetzt nur ungern allein sein.
Da sie Ryan im Gastraum nicht entdecken konnte, winkte sie Hank nur kurz zur Begrüßung zu und lief dann direkt die Treppe hoch zu den Hotelzimmern. Sie klopfte an Ryans Tür und wartete.
Nur wenige Sekunden später öffnete er die Tür. Er telefonierte gerade. Als er Tess sah, lächelte er und gab ihr mit einem Wink zu verstehen, ins Zimmer zu kommen.
Tess ließ sich auf den obligatorischen Stuhl fallen, der in jedem Hotelzimmer stand. Er war so wackelig, dass sie es kaum wagte, sich zu rühren, weil sie Angst hatte, dass der Stuhl sonst einfach unter ihr zusammenkrachte.
Geduldig wartete Tess ab, bis Ryan sein Gespräch beendet hatte. Die meiste Zeit sagte er nicht viel,
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