See der Schatten - Kriminalroman (German Edition)
vielleicht doch geirrt hatte. Jetzt die Gewissheit zu bekommen, dass Millie wirklich tot war, traf sie wie ein harter Schlag.
Das Schlimmste war, dass sie insgeheim gehofft hatte, Ellens Vermutungen würden sich als wahr erweisen und zeigen, dass Jared nicht der Mörder von Joanna war. Jetzt fühlte sie sich deswegen schuldig. Es war, als hätte sie gehofft , dass ihre Freundin tot war.
»Oh, Millie, es tut mir so leid, bitte verzeih mir«, flehte sie leise.
Sie dachte an das letzte Mal zurück, als sie ihre Freundin gesehen hatte. Es war ein paar Wochen nach ihrem Schulabschluss gewesen, während der schlimmsten Zeit in ihrem Leben. Ihre Tante hatte bereits begonnen, die restlichen Einwohner von Shadow Lake mit ihren Verdächtigungen gegen sich aufzubringen, und das Verhältnis zwischen Ellen und ihr war sehr angespannt gewesen.
Tess war ins Lakeview Inn gegangen, um sich von Millie zu verabschieden, bevor sie am nächsten Tag nach San Francisco aufbrechen wollte. Sie erinnerte sich noch gut an ihr letztes Gespräch.
»Irgendwie beneide ich dich«, hatte Millie damals gesagt. »Du weißt genau, was du willst. Du bist so zielstrebig. Wenn du mit dem College fertig bist, wirst du bestimmt ganz groß Karriere machen und dann einen tollen Mann heiraten.«
Tess lächelte traurig. Für die große Karriere hatte sie sich nicht entschieden, aber immerhin war sie in ihrer Boutique ihr eigener Chef. Und das war ihr wichtiger als ein dicker Gehaltsscheck und ein Büro in der Chefetage. Ihr Privatleben war dagegen noch nicht so besonders gut gelaufen. Von gelegentlichen Dates und ein paar lockeren Beziehungen abgesehen, hatte es nie jemanden gegeben, an den sie sich fest hatte binden wollen. Nachdem sie in ihrem Leben schon so viele Menschen verloren hatte, die sie geliebt hatte, war es ihr nicht leicht gefallen, neue Beziehungen einzugehen – nicht einmal freundschaftliche. Die Angst, wieder verlassen zu werden, saß einfach zu tief.
Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte Ryans Gesicht in ihren Gedanken auf, aber sie verdrängte es sofort wieder. Sie kannte ihn ja gerade mal ein paar Tage, da musste sie über mehr gar nicht nachdenken.
Wieder kehrten Tess` Gedanken zu Millie zurück. Sie hatte schon immer einfach in den Tag hineingelebt und sich nicht um die Zukunft gekümmert. Auch die Schule war ihr nicht besonders wichtig gewesen. Dementsprechend hatten ihre Noten meistens eher im unteren Drittel gelegen. Erst im letzten Schuljahr hatte Tess erfahren, dass in Millies Familie ziemlich schwierige Verhältnisse geherrscht hatten. Ihr Vater hatte anscheinend ein ausgeprägtes Alkoholproblem gehabt und auch Gewalt war wohl eher die Regel als die Ausnahme gewesen. Trotzdem hatte Millie immer fröhlich gewirkt. Sie musste eine Meisterin im Verbergen ihrer wahren Gefühle gewesen sein, schoss es ihr durch den Kopf.
Plötzlich hatte Tess eine Idee. Konnte es sein, dass Millies Vater etwas mit dem Tod seiner Tochter zu tun hatte? Tess wusste, dass er zu Gewaltausbrüchen neigte, vor allem, wenn er getrunken hatte. Wenn er sie im Alkoholrausch erschlagen und die Leiche in den Wald gebracht hatte, um seine Tat zu verschleiern …
Dann aber schüttelte Tess den Kopf. Sie konnte sich daran erinnern, dass Kate ihr damals am Telefon erzählt hatte, Millies Eltern wären nicht in der Stadt gewesen, als ihre Tochter aus Shadow Lake verschwunden war. Die beiden wollten aus Shadow Lake wegziehen und waren unterwegs gewesen, um sich im Süden von Kalifornien ein paar Häuser anzusehen. Kate hatte noch erzählt, die beiden wären völlig erstaunt gewesen, dass Millie nicht mehr da war, als sie zurückgekommen waren. Das war anscheinend aber kein Anlass für sie gewesen, sich um sie Sorgen zu machen und eine Vermisstenanzeige zu erstatten. Kurze Zeit später waren sie auch tatsächlich in die Nähe von San Diego gezogen. Seitdem hatte niemand in Shadow Lake mehr etwas von ihnen gehört.
Wieder musste Tess an ihr letztes Gespräch mit Millie denken. Da sie nicht gewusst hatte, was sie nach der Schule anfangen sollte, und sich ihr mit ihren schlechten Noten auch nicht allzu viele Möglichkeiten boten, hatte sie kurzerhand Hank Fridays Angebot angenommen, im Lakeview Inn zu kellnern. Aushilfsweise hatte sie das schon während der Schulzeit immer wieder getan.
Als sie Tess an diesem letzten Abend zum Abschied in den Arm genommen hatte, war sie beinahe schon melancholisch geworden. »Weißt du, früher habe ich immer gedacht, wir
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