Seegrund
Wollmantels nach oben. Er hatte ihn von der Nachbarin bekommen, ebenso wie seine Haferlschuhe. Denn statt des Nachbarn war nur eine Todesnachricht aus dem Krieg zurückgekehrt. Der eisige Wind blies so stark, dass er seine Zigarette kaum anstecken konnte. Schließlich aber gelang es ihm doch. Auch das hatte er im Krieg gelernt.
Er ließ den Kopf hängen. Sollte wieder niemand kommen? Sollte er wieder der Einzige sein, der sich an die Abmachung hielt? Jedes Jahr am gleichen Tag, das hatten sie so vereinbart. Und nun kam er schon zum zweiten Mal hierher und war allein. Sollten sich die anderen bereits woanders gefunden haben? Weil der See ja eigentlich nur unter Schwierigkeiten erreichbar war? Er wusste nicht, was die Amerikaner hier oben suchten. Hätten sie ihn hier herumschnüffeln sehen, hätte er große Schwierigkeiten bekommen. Militärische Sperrzone. Wie damals, nur unter anderer Flagge.
Auf einmal hörte er hinter sich ein Geräusch. Er drehte sich um und sah einen jungen Mann durch den Schnee laufen. Er kam direkt auf ihn zu, die letzten Meter nahm er im Laufschritt, dann fielen sie sich in die Arme.
Wo er denn gewesen sei. Warum er so spät noch in Gefangenschaft gekommen sei, wo er jetzt denn wohne. Es waren die gleichen Fragen, die sie sich stellten.
Und schließlich wurden es immer mehr. Ausgemergelte, gebrochene Gestalten. Noch nicht einmal zwanzig Jahre alt. Doch im Herzen bereits Kriegserfahrungen, die sie schneller als gewünscht hatten reifen lassen. So ging es allen, die kamen, das verrieten ihre zerschundenen Gesichter. Und ihre Tränen.
Doch einige fehlten. Würden sie noch kommen? Vielleicht die nächsten Jahre? Viele waren noch am Ende des Krieges abberufen worden an die Front. Doch das konnte auch Gefangenschaft bedeuten. Nicht zwangsläufig mussten sie … Sie vermieden das Wort.
Er berichtete, dass er letztes Jahr schon da gewesen sei. Als Einziger. Und dass er froh sei, jetzt nicht mehr allein zu sein.
Irgendwann, sagte er, kaufe er sich eine Taucherausrüstung. Und dann …
Die anderen sahen zu ihm, sahen, wie er seine Hand zu einem Zeichen formte. Daumen und Zeigefinger bildeten einen Kreis, die anderen Finger spreizte er strahlenförmig ab.
Was dieses Zeichen denn bedeute, wollten sie wissen.
Tauchersprache sei das. Alles in Ordnung heiße es, sagte er, und zündete sich eine neue Zigarette an.
Das sei es, sagte einer. Die Jungen, die so schnell zu Männern wurden, lachten auf einmal wieder wie damals. Und sie schworen erneut. Dieses Tauchersymbol solle ihr Geheimzeichen sein. Denn eines Tages würde auch für sie wieder » alles in Ordnung « sein. Dank dieses Sees.
Kluftinger hatte Schnalke aufgetragen, nichts an dem Ofen zu verändern. Man würde ihn baldmöglichst erneut in Augenschein nehmen und womöglich auch abholen. Dagegen hatte Schnalke vehement protestiert und schließlich doch noch sein Handy gezückt, um einen Anwalt anzurufen.
Nun saß Kluftinger im Auto und nahm die Straße nach Hopfen am See. Er hatte von Strobl eine SMS bekommen, er solle so bald wie möglich ins Altersheim kommen, es sei dringend. Dort hatten Marx und Strobl Alfons Karg, der ja nicht selbst mit seinen alten Kriegskameraden ins Präsidium nach Kempten hatte kommen können, besucht. Weiter wusste er noch nichts.
Er war innerlich noch ganz aufgewühlt von der Entdeckung, die er eben gemacht hatte. Die Kollegen in Kempten hatte er bereits informiert und auch Dietmar Lodenbacher Bescheid gegeben.
Endlich angekommen rannte Kluftinger mehr in das Heim als dass er ging. Die Ereignisse schienen sich nun regelrecht zu überschlagen. Erst sein Fund und jetzt eine weitere wichtige Neuigkeit, die auf ihn warten sollte.
Nachdem er sich an der Pforte nach Kargs Zimmernummer erkundigt hatte, lief er über die Treppe in den zweiten Stock. So voller Tatendrang war er lange nicht gewesen. Er nahm die ersten Stufen im Laufschritt, was er aber bereits am ersten Treppenabsatz wegen eines heftigen Hustenanfalls bitter bereute. Als Kluftinger die Tür zum Zimmer mit der Nummer 211 öffnete, war er noch immer außer Atem.
In dem stickigen Raum saß ein alter Mann teilnahmslos mit halb geöffnetem Mund in einem Ledersessel. Marx und Strobl blickten unbeteiligt aus dem Fenster.
Kluftinger wollte Karg zur Begrüßung die Hand reichen, doch der Alte reagierte überhaupt nicht, er sah ihn nicht einmal an.
»Lass gut sein, der kann dich nicht hören«, klärte Strobl ihn auf. »Ist völlig umnachtet. Leider. Herr
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