Seegrund
Karg bekommt noch nicht einmal mit, wenn du hier einen Güterzug durchrattern lässt. Schlaganfall, weißt du?«
»Ach so, vielen Dank auch! Ich hab grad eine sensationelle Entdeckung gemacht, von der ich wegen euch überstürzt aufgebrochen bin, und ihr macht einen netten Seniorennachmittag im Heim, oder wie? Was gibt’s denn so Wichtiges?«
Strobl gab Kluftinger ein beschriebenes Blatt Papier.
»Schau dir das mal an, dann siehst du, warum wir dich sofort geholt haben. Den haben wir in seiner Kommode gefunden. Halt ihn als Erstes gegen das Licht!«
Kluftinger ging zum einzigen der raumhohen Fenster, das nicht von dunklen Holzjalousien verdunkelt war. Von hier aus hatte man einen herrlichen Blick über den See nach Füssen bis nach Neuschwanstein. Kluftinger hielt den Brief, der auf edlem Büttenpapier geschrieben war, an die Scheibe. »Kruzifix«, stieß er überrascht hervor. Ein Wasserzeichen schimmerte durch das Papier – dasselbe Zeichen, das ihm bei diesem Fall schon so häufig begegnet war.
»Aber der Inhalt ist eigentlich noch interessanter als die Aufmachung«, bemerkte Friedel Marx.
Kluftinger begann den Brief, vergilbt und auf einer alten, mechanischen Schreibmaschine geschrieben, zu lesen. Absender und Datum fehlten. Die Anrede jagte Kluftinger einen ersten Schauer über den Rücken:
Lieber Alfons, treuer Kamerad!
Du warst stets ein tapferer Gefährte auf unserem gemeinsamen Weg. Und warst der Lauterste, der Aufrichtigste von uns. Unrecht war Dir stets ein Greuel, auch in den schweren, aber erfüllenden Zeiten unseres Dienstes fürs Vaterland. W. sagte einmal, Du seiest das personifizierte Gewissen unseres Bundes und er hat wohl Recht damit. Und so ist es nur billig, daß Du wegen des unerfreulichen Vorfalls, der unserer Gruppe unlängst widerfahren ist, die fehlende Gerechtigkeit anmahntest! Wir haben uns zu Richtern gemacht, das ist wahr. Aber wir hätten nicht zulassen können, daß G. das Ziel unseres gemeinsamen Strebens, das Ziel des Wartens und der Entbehrung opfert oder den Lohn allein davonträgt. Du mußt versuchen, es richtig einzuordnen! Es wäre nicht gerecht gewesen. Damals haben wir gelobt, daß wir Kameraden seien, bis ins kühle Grab. Und sollten sie versuchen, uns unser Geheimnis zu entreißen, so haben wir uns geschworen, daß weder Folter noch Tod unsere Zunge lockern sollte. Verstehe unsere Lage! Unser Bund ist größer als der Einzelne.
Kameradschaftliche Grüße
J.
Kluftingers Hände zitterten, als er den Brief weglegte.
»So, und jetzt lesen Sie noch diesen Brief hier!«, forderte ihn Friedel Marx auf, die ein weiteres Schriftstück in Händen hielt.
Dieses Schreiben war anders als das erste: Das Papier war von derselben Qualität und wies, wie Kluftinger feststellte, dieselbe Prägung auf. Aber es war weniger vergilbt, fast noch rein weiß. Und das Schreiben musste auf einem Computer geschrieben und mit einem alten Nadeldrucker gedruckt worden sein. Wieder fehlte der Briefkopf, diesmal aber stand ein Datum am oberen rechten Rand: Januar 1990.
»Wie lange ist denn der Karg schon in diesem Zustand?«, wollte Kluftinger von den Kollegen wissen.
»Er hat vor vier Monaten seinen dritten Schlaganfall gehabt, seitdem ist er nicht mehr ansprechbar, hat uns der Pfleger gesagt. Zuvor war er von zwei leichteren Schlägen zwar körperlich teilweise gelähmt, aber bei klarem Verstand«, sagte Strobl.
Kluftinger nickte und begann zu lesen:
Lieber Alfons, treuer Kamerad!
P. wird sich vorsehen müssen. Wir hatten ihn nicht mehr auf unserer Rechnung. War vorherzusehen, wohin es ihn verschlägt?
Ich weiß, daß Du, lieber Alfons, Skrupel hast. Aber haben wir so lange gewartet, um uns von einem alles zerstören zu lassen?
Treue zu unserem Schwur, das war es, was alles bewahrt hat. Und wenn es für unsere Söhne war.
Dein Kamerad
J.
»Und? Was sagst du jetzt?«, fragte Strobl ungeduldig.
»P. wird sich vorsehen müssen … Hm. Pius Ackermann?«
»Natürlich«, nickte Friedel Marx. »P. steht natürlich für Pius Ackermann.«
Kluftinger ging zum Fenster und sah hinaus. Es hatte angefangen zu schneien. Das Schloss war plötzlich kaum mehr zu sehen. Karg lag nach wie vor in seinem Sessel und atmete schwer.
»Wir müssen diesen Ackermann finden«, brummte Kluftinger. »Wenn er zu Hause nicht aufzutreiben ist, dann woanders! Schreibt ihn zur Fahndung aus. Zu seiner eigenen Sicherheit.«
Dann drehte er sich um, lächelte und sagte: »Ihr werdet nicht glauben, was ich gerade
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