Seegrund
dass ganze Viren-Familien mit Viren-Großmüttern, die unzählige Virenenkel hüteten, in seinem Magen-Darm-Trakt nun eine neue Heimat gefunden hatten.
Wäre ich doch gestern nur nicht auf diese Schnapsidee mit dem neuen Lokal gekommen, verfluchte er sich. Er haderte nach vermeintlichen Fehlentscheidungen immer lange mit sich und stellte sich vor, wie schön und einfach das Leben doch verlaufen wäre, hätte er sich anders entschieden. Auch wenn es zu spät war und ihm eigentlich nur zusätzliche Kopfschmerzen bereitete, konnte er nicht davon lassen: Hätte ich doch meinen Lodenmantel nicht in der Kälte ausgezogen, wäre ich doch gestern nicht so unvorsichtig heimgefahren und hätte das Schild nicht gesehen. Hätte … wäre … sollte – es half nichts. Es war nun einmal so gekommen, damit musste er sich abfinden. Just in diesem Moment meldete sich sein Magen mit dumpfem Grollen und er legte die Hand auf seinen Bauch, als ob er damit irgendeinen therapeutischen Effekt erzielen könnte.
Mit einem hellen Gong öffnete sich die Aufzugtür und er trat in den Gang. Dort stand seine Sekretärin am Kopierer, sah ihn ein paar Sekunden lang an und fragte dann lapidar: »Kamillentee?«
Er nickte schwach und verschwand in sein Büro. Es war schon erstaunlich, wie Sandy Henske gelernt hatte, seine Stimmung und sogar seinen Gesundheitszustand mit nur einem Blick zu erraten. Das schaffte nicht einmal seine Frau. Während er noch darüber nachsann und den Schal, den er anbehielt, etwas lockerte, kam Sandy mit einem Tablett herein, auf dem sich neben einer Thermoskanne und einer Tasse einige Teebeutel befanden. Einer hing bereits in der Tasse und ein kräftiges Kamillenaroma breitete sich im ganzen Raum aus. Obwohl durch Kluftingers verstopfte Nase nur wenige Duftmoleküle drangen, nahm auch er diesen Geruch wahr – und fühlte sich gleich noch kränker. Er trank niemals Tee, wenn er gesund war, und so weckte der Duft von Tee bei ihm die Assoziation von Elend und Siechtum.
»Nu setzen Sie sisch erst mal, und dann trinken Sie ne Tasse Tee mit Honig, dann wird’s gleisch besser.« In Sandys Worten lag ein Trost, der ihm gut tat, auch wenn er sich nie ganz sicher war, ob sie ihn in seiner Pein wirklich ernst nahm. Aber ihre Worte halfen trotzdem, wie damals bei seiner Mutter, als schon die Vorhersage, wenn er dies oder das tue, werde es ihm wieder besser gehen, eine psychologische Heilwirkung erzielt hatte. Seine Frau dagegen schien das ganze Ausmaß seines Leidens oft nicht zu erfassen und speiste ihn mit Sätzen ab wie »Wird schon wieder« oder »Jetzt hab dich halt nicht gar so«.
Die Tür öffnete sich und Maier, Strobl und Hefele betraten das Büro. Als sie Kluftinger mit seinem Schal am Schreibtisch sitzen sahen und den Tee rochen, warfen sie sich viel sagende Blicke zu.
»Oh Gott, ist es schon wieder so weit?«, flüsterte Hefele den anderen zu.
»Morgen, die Herren. Und, geht’s gut?« Friedel Marx kam gleich nach ihnen ins Zimmer und blickte sich um. Sie verstand das betretene Schweigen nicht, das ihre Frage ausgelöst hatte. Erst als die drei Kommissare mit ihren Köpfen verstohlen auf Kluftinger wiesen, begriff sie.
»Na, Kollege, ist Ihnen die frische Luft im Ostallgäu nicht bekommen?«, fragte sie mit einem höhnischen Unterton in der Stimme. Die anderen zogen erschrocken die Köpfe ein: Sie wussten, dass ihr Chef, der durchaus für einen Scherz zu haben war, keinen Spaß verstand, wenn es um Kommentare zu seinem angeschlagenen Gesundheitszustand ging. »Wir haben da Reizklima, wissen Sie?«
»Ist nicht so schlimm«, krächzte er ärger, als es eigentlich nötig gewesen wäre, als wolle er Marx für ihre forsche Frage nachträglich ein schlechtes Gewissen bereiten.
»Wenn Sie mich fragen: Rauchen Sie Rillos. Ich war seit zwanzig Jahren nicht mehr krank. Geräuchert hält halt länger, gell?« Mit diesen Worten warf sie die kleine Zigarre, die sie bis auf einen winzigen Stummel aufgeraucht hatte, in den Aschenbecher auf dem Sofatischchen, wo sie noch leicht vor sich hin qualmte. Als Kluftinger das sah, wurde ihm noch heißer, als es ihm wegen seines Schals sowieso schon war. Zigarrenrauch vertrug sich seiner Meinung nach ganz und gar nicht mit einer Erkältung. Sollte die Kollegin in den nächsten Tagen auch nur mit dem Gedanken spielen, in seiner Nähe zu paffen, würde sie ihn mal richtig kennen lernen.
Sandy erriet offenbar seine Gedanken, denn sie nahm den Aschenbecher auf ihrem Weg nach draußen an
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