Seegrund
Sommer einen der eindrucksvollsten Seen hier im Allgäu bildete. Man hatte einen schönen Blick auf die beiden Königsschlösser, die, fern von allem Trubel, sogar dem Kommissar gefielen. Heute sah die weite Ebene des Seegrunds, die mit ihren Gräben und von Eis bedeckten Furchen an eine Wattlandschaft erinnerte, noch viel unwirtlicher aus als am letzten Sonntag, als er mit seiner Familie hier gewesen war. Damals hatte die Sonne geschienen und dem trockenen Seebett etwas von seiner bedrückenden, ja morbiden Erscheinung genommen.
Der Kommissar musste die Augen zusammenkneifen, so stark blies der Wind. Weit draußen auf der offenen Fläche nahm er eine Gestalt wahr, die er an ihrer Kleidung als Günther Steinle, den Leiter des Wasserwirtschaftsamtes Ostallgäu identifizierte. In dessen Büro hatte man Kluftinger nämlich gesagt, er könne Steinle gar nicht verfehlen, der trage bei der Arbeit stets einen leuchtgrünen Anorak. Der Kommissar vergrub seine Hände tief in den Manteltaschen, zog seine Schultern hoch und ging los. Zum Glück hatte er sich an diesem Morgen die dicken Winterstiefel angezogen. Gerade, wenn er erkältet war, litt er unter kalten Füßen, und so war es ihm auch egal, wenn ihn Mitarbeiter wie Familie mit seinen Nordpol-Expeditionsschuhen aufzogen. Hauptsache warm, dachte er sich.
»Herr Steinle?«
Der Mann im neonfarbenen Blouson schreckte ruckartig hoch. Er hatte ein paar Reagenzgläschen in der Hand, offenbar gefüllt mit Proben, die er gerade aus dem schlammigen Grund entnommen hatte. Mit erschrockener Miene sah er Kluftinger an.
»Entschuldigen Sie, darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Kluftinger.«
»Aha. Womit kann ich dienen?«
Der Mann im grünen Anorak blickte misstrauisch drein und sah sich um. Kluftinger konnte diese Reaktion gut nachvollziehen. Sicher hatte er sich hier, inmitten eines abgelassenen Sees allein gewähnt und nun stand plötzlich ein Fremder vor ihm.
»Kripo Kempten«, sagte der Kommissar schnell. »Ich hätte ein paar Fragen an Sie, Herr Steinle. Ihre Mitarbeiterin hat mir gesagt, dass ich Sie hier finden würde.«
Kluftingers Gegenüber schien erleichtert. »Heu, ist die Friedel Marx krank?«
»Ach, Sie kennen sich?«
»Die Friedel und ich, wir waren mal ein Paar … Aber das ist schon ewig her.«
Kluftinger konnte nicht glauben, was er da eben gehört hatte. Steinle, der lange, kräftige Mittfünfziger mit der markanten Nase wirkte recht attraktiv. Abgesehen vielleicht von seiner etwas zu hohen Stimme. Wahrscheinlich wurde er am Telefon für eine Frau gehalten und die Marx …
»Die war damals ein heißer Feger«, fuhr Steinle unvermittelt fort. Der Kommissar weigerte sich, zu glauben, dass er von seiner Füssener Kollegin sprach. »Wie dem auch sei, wir haben jetzt ab und zu beruflich miteinander zu tun. Es gibt hier viele Seen, Flüsse, Stauwehre. Man glaubt gar nicht, was im Wasser so an Unfällen und Selbstmorden alles zusammenkommt. Bei solchen Sachen kommt dann die Friedel immer.«
»Soso. Nein, Frau Marx ist nicht krank – von ihrem Husten mal abgesehen.«
»Der kommt vom Rauchen. Wie ein kaputter Ofen schlotet die!«
Kluftinger war verwundert, dass ausgerechnet Friedel Marx der »Eisbrecher« für ihre Unterhaltung war.
»Ich bin heute allerdings wegen einer anderen Geschichte da«, wurde Kluftinger wieder sachlich. »Es geht um den Alatsee.«
»Meine Güte. Wieder ein Taucher? Die lassen sich nicht aufhalten, diese Deppen! Dabei ist doch grad die TU München oben.«
»Sie haben Recht, es geht um einen Tauchunfall, allerdings im Zusammenhang mit dem Forschungsvorhaben.«
»Ach, und da gibt es Ermittlungen der Kripo? Was ist denn genau passiert?«
»Nun, wir müssen davon ausgehen, dass jemand beim Unfall nachgeholfen hat. Aber sagen Sie: Was ist am Alatsee so faszinierend, dass er die Taucher so magisch anzieht, obwohl jegliches Tauchen dort verboten ist?«
»Nun«, hob Steinle an und legte die kleine Schaufel weg, mit der er die Erdproben aus dem Seegrund gebuddelt hatte, »es sind sicher das Verbot und der Reiz des Ungewissen, was die Leute lockt. Die biologischen Gegebenheiten machen den See faktisch zu einem Buch mit sieben Siegeln. Das Milieu schafft so feindliche Bedingungen, dass es selbst für die erfahrensten Taucher mit der besten Ausrüstung gefährlich werden kann. Es gibt eine Menge Geheimnisse, die mit dem See zu tun haben – und dazu kommen mindestens noch einmal so viele Legenden, Sagen und Geschichten, die man sich
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