Seegrund
Blättchen, auf dem Gymnastik treibende Strichmännchen aufgemalt waren. Er wunderte sich, hatte er doch noch nie gehört, dass Gymnastik bei Husten angewandt wurde. Aber da er sowieso nicht vorhatte, diese Übungen zu machen, nickte er nur, steckte den Zettel ein und drängte den Arzt hinaus.
Während der wieder ins Wohnzimmer ging, legte Kluftinger die Medikamente auf seinem Nachtkästchen bereit; der Doktor hatte ihm aufgetragen, sie direkt vor dem Zubettgehen zu nehmen. Auch das Blatt mit den Strichmännchen legte er dazu. Dabei fiel sein Blick auf den Titel: »Angewandte Übungen zur Behandlung von Adipositas«. Kluftinger wurde neugierig. Da er sowieso noch den Begriff nachschlagen wollte, mit dem ihn der Doktor vorhin gegenüber seiner Frau belegt hatte, nahm er das Medizinlexikon zur Hand, das auf ihrem kleinen Bücherbord über dem Doppelbett stand, und begann zu suchen. Als er das Wort »Hypermotorik« fand, entspannte er sich.
»Muskelzuckungen und unwillkürliche Bewegungen« stand dort und Kluftinger attestierte dem Doktor sogar einen Anflug von Humor, wenn der auch durch seine geschwollene Ausdrucksweise im negativen Sinne wieder wettgemacht wurde.
Daraufhin schlug er den anderen Begriff nach: »Adipositas« war dort mit mehreren Bedeutungen aufgeführt. Schon die erste trieb Kluftinger die Zornesröte ins Gesicht. »Fettsucht«, las er dort und »Fettleibigkeit« sowie »Übermäßige, abnorme Vermehrung od. Bildg. von Fettgewebe«. Er traute seinen Augen nicht. Was bildete der Doktor sich eigentlich ein? Natürlich war Kluftinger nicht der Schlankste und er hatte sowieso vorgehabt, wieder einmal ein paar Kilo abzunehmen. Dazu brauchte er aber keinen schlauen Doktor. Er stand auf und lief im Zimmer auf und ab. Fettsucht! Fettleibigkeit! Gut gebaut war er, natürlich. Sicher, schon kräftig. Ein stattlicher Mann halt, wie seine Mutter immer sagte. Abnorme Vermehrung von Fettgewebe! Pah!
Es rumorte derart heftig in ihm, dass er fürchtete, er könnte handgreiflich werden, sollte ihm Langhammer heute noch einmal unter die Augen treten. Er kochte und riss trotz seiner Erkältung das Fenster auf. Er brauchte jetzt frische Luft. Weit am Horizont sah er ein Blaulicht zucken, wahrscheinlich von einem Krankenwagen, dachte er. Da hatte er plötzlich einen Einfall. Er schlich sich lautlos im Dunklen zur Garderobe, kramte sein Handy aus seiner Jackentasche und wählte die Nummer eines Musikkameraden, der in Muthmannshofen wohnte, einem entlegenen Ortsteil von Altusried.
»Paul? Ja, servus, ich bin’s. Kluftinger, ja. Du Paul, hör zu, du musst mir mal schnell einen Gefallen tun. Du kennst doch den Doktor Langhammer …«
»Da bist du ja endlich wieder. Hast du deine Medizin genommen?«
Erika blickte ihren Gatten misstrauisch an.
»Muss ich erst, wenn ich ins Bett gehe. Aber ich wollt mich noch ein bisschen zu euch setzen.«
Erst blieb Erikas Blick skeptisch, dann hellte sich ihre Miene auf.
»Das freut mich aber. Du scheinst ja heilende Hände zu haben, Martin«, lächelte sie und Langhammer nickte ihr grinsend zu. Er machte gerade den Mund auf, da klingelte sein Handy. Er meldete sich – mit »Doktor Langhammer«, wie Kluftinger kopfschüttelnd zur Kenntnis nahm – und lauschte dann konzentriert. Mit zunehmender Dauer des Anrufs wurde seine Miene immer ernster. Er erging sich in zahllosen »Mhms« und »Hms«. Schließlich sagte er: »Ich komme vorbei und sehe mir die Sache an«, und steckte sein Handy wieder in die lederne Gürteltasche.
»Tut mir leid, meine Taube, wir müssen. Ein Notfall.«
»Was ist denn passiert?«
»Ich weiß auch nicht so genau. Vielleicht will mich da jemand auf den Arm nehmen. Ich muss nach Muthmannshofen. Ein siebzig Jahre alter Mann soll sich beim …« Langhammer unterbrach seinen Satz und flüsterte seiner Frau etwas ins Ohr, woraufhin diese rot anlief und nur ungläubig fragte: »In dem Alter? Ja um Gottes willen.«
Alle machten ein betroffenes Gesicht, nur Kluftinger schien nicht überrascht. »Ja, so ist das eben in unseren Berufen: allzeit bereit …«
Sie verabschiedeten sich voneinander, wobei Langhammer sich vor Yumiko verneigte und dabei die Handflächen wie zum Gebet gegeneinander presste, was diese mit einem scheuen Kichern quittierte. Als sie draußen zum Auto liefen, rief Kluftinger ihm noch grinsend hinterher: »Sayonara, gell!«
Die Hände in den Taschen vergraben arbeitete sich Kluftinger durch den tiefen Schnee zum Seeufer vor. Friedel Marx und
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