Seegrund
Seriennummer. Wie alle Dinge, die in der Rüstungsindustrie des Dritten Reiches benutzt wurden. Soweit, so gut. Die Seriennummer sagt nämlich eine ganze Menge aus: nicht nur, wo das Ding hergestellt worden ist, sondern auch, wo es verwendet wurde. Es gibt detaillierte Aufstellungen, wo wann was wofür gebraucht wurde. Die Nazis waren da sehr gründlich. Typisch deutsch, könnte man sagen. Jedenfalls hat auch dieses Werkzeug eine Seriennummer. Die weist eindeutig darauf hin, dass das Gerät erst Mitte der vierziger Jahre produziert worden ist. Und zwar für …«
Strobl machte eine Pause und sah seine Kollegen vom Rücksitz aus an. Kluftinger hob neugierig die Augenbrauen.
»Für …?«, hakte er ungeduldig nach.
»Tja, das ist genau der Punkt. Hier klafft eine Lücke. Ich habe bei allen zur Verfügung stehenden Archiven nachgehakt: Es ist klar, dass das Ding in der Endfertigung der militärischen Luftfahrt benutzt worden ist. Doch wo und bei welcher Produktionsstätte – darüber schweigen sich die Unterlagen aus. Seltsam, oder?«
Das war in der Tat seltsam, fand Kluftinger. Aber es passte ins Bild: In diesem Fall war nicht nur alles anders, als es auf den ersten Blick schien; immer, wenn sie Fortschritte machten, rannten sie plötzlich gegen eine Mauer.
Als sie den Namen des Opfers herausgefunden hatten, war es plötzlich ein anderer; dann hatten sie endlich einen Hinweis auf den möglichen Grund für seinen Tauchgang gefunden, und darüber schwiegen sich die Archive aus.
»Was denkst du?«
»Nichts Bestimmtes. Ich habe nur das Gefühl, dass wir noch die eine oder andere Überraschung erleben werden.«
»Eine hab ich schon«, grinste sein Kollege.
Erschrocken fixierte ihn Kluftinger im Spiegel.
»Nein, keine Angst, nix Schlimmes«, beruhigte der seinen Chef. »Es ist nur so: Alle haben mir bestätigt, dass es ungewöhnlich ist, dass ausgerechnet ein solches Nageleisen das Siegel der Luftwaffe trägt. Das sei aufgrund seiner Krallen nämlich eigentlich eher ein Zimmermannswerkzeug. Dient einzig und allein der Holzbearbeitung. Schlosser benützen völlig andere Werkzeuge.«
»Hm, wieder so ein Rätsel«, knurrte der Kommissar. »Wär ich an diesem Sonntag doch bloß nach Neuschwanstein gegangen … Kruzifix!«
Etwas oberhalb des Weißensees bei Füssen bogen sie auf Friedel Marx’ Geheiß rechts ab in eine kleine Siedlung mit großen, villenartigen Häusern.
»Noble Gegend«, kommentierte Kluftinger und schürzte die Lippen.
»Scheint, dass wir uns zur Zeit im Derrick-Milieu bewegen«, entgegnete Marx, worauf der Kommissar einen Lachhustenanfall bekam. Es war tatsächlich eine Siedlung, wie man sie aus Freitagabendkrimis kannte. In solchen Vierteln trieben sich »Derrick« und »Der Alte« immer herum. Es waren Häuser, die oben abgerundete Butzenglasfenster mit schmiedeeisernen Gittern und große Empfangshallen mit marmornen Treppenaufgängen hatten, und wenn die Kommissare eintraten, kam immer gerade die Hausherrin herunter, die einen Angorapulli und eine ausladende Perlenkette trug und an deren Ohren riesige Klunker herunterhingen. Obwohl Derrick immer in München spielte, redeten alle akzentfreies Hochdeutsch und warfen sich misstrauische Blicke zu. Kluftinger hatte einmal gewettet, an bestimmten Schlüsselstellen den nächsten Satz vorhersagen zu können und es beinahe auch geschafft. Es war aber auch nicht allzu schwer, denn beispielsweise sagte die Frau in der Empfangshallenszene immer Worte wie »Sie schon wieder? Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich meinen Mann seit Tagen nicht mehr gesehen habe!«, worauf die Kommissare sich viel sagend ansahen und dann fragten: »Wo waren Sie Samstagabend?«
Wenn er es sich recht überlegte, hatte er kaum jemals diese »klassische« Frage nach dem Alibi gestellt. Sie war meist im Gespräch ohnehin beantwortet oder von einem Kollegen bei der Protokollaufnahme geklärt worden. Wer weiß, vielleicht hatten die Fernsehkommissare ja keine Kollegen, die Protokolle aufnahmen. Schließlich hatten sie ja auch weder Frauen, noch Kinder, geschweige denn Hunger, Durst oder Blähungen. Jedenfalls ging es von der Empfangshalle dann immer in ein Zimmer mit weißer Ledercouch, in der ein junger, absolut verdächtig aussehender, Jura oder BWL studierender, strohblonder Sohn saß, der mit seinem Cabrio gerade wahlweise vom Golfen oder vom Tennisspielen kam, einen weißen Pullover um die Schultern geschlungen hatte und seine Mutter, die eigentlich die Stiefmutter war, weil
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