Seehaie
Bruchteile einer Sekunde suchte er mit der freien Hand
vergeblich nach einem Halt. Gleich darauf rutschte er geräuschvoll die steile
Treppe hinab, immer schneller werdend. Das Gewehr glitt ihm aus dem Arm und
polterte nach unten. Als es auf ein Metallgitter schlug, löste sich ein Schuss,
dicht gefolgt von einem durchdringenden Schrei.
Hohmann war auf der Aussichtsplattform auf halber Höhe
des Turms liegen geblieben. Er erhob sich mühsam, wankte, tastete suchend nach
dem Geländer und stützte sich darauf, bis ihm zuletzt die Arme einknickten.
Sein Oberkörper rutschte über das Geländer, und während seine Hände noch
panisch nach den Metallstreben griffen, um der Schwerkraft entgegenzuwirken,
erkannte Wolf bereits die Aussichtslosigkeit der Lage. Hohmann verlor den Halt
und stürzte nach unten.
Wolf hatte einmal einen ähnlichen Sturz vom sechsten
Stock eines Bürohochhauses mit ansehen müssen, doch er war aufs Neue
überrascht, wie endlos lange es dauerte. Die Zeit blieb förmlich stehen, bis
der Körper schließlich mit einem dumpfen »Plopp« auf dem Boden aufschlug.
27
Hohmanns Unfalltod bedeutete einen
erheblichen Rückschlag für die Ermittler, so viel stand fest. Sie hatten ihn
als Kopf einer Bande mit mafiaähnlichen Strukturen eingestuft, deren
kriminelles Potenzial zu diesem Zeitpunkt nicht einmal annähernd abzuschätzen
war. Seine Flucht und seine Gewaltbereitschaft hatten sie in ihrem Verdacht
bestärkt. Wolf war überzeugt gewesen, dass sie unmittelbar vor der Lösung des
Falls standen. Hohmann musste das ähnlich empfunden haben, nur so war seine
aussichtslose Flucht auf den Turm zu erklären.
Jetzt kam es entscheidend darauf an, am Ball zu bleiben,
Druck zu machen, Verdächtige und Verdachtsmomente innovativ zu verknüpfen. Noch
am Abend wollten sie damit beginnen.
Die Kollegen aus Markdorf hatten die Abwicklung des
Todesfalls am Gehrenberger Aussichtsturm übernommen: Spurensicherung, Überführung
der Leiche, Protokolle, das ganze aufwendige Programm. Wolf, Marsberg und der
junge Preuss dagegen wollten schnellstmöglich nach Überlingen zurück.
Auf der Rückfahrt rief Kalfass an.
»Chef, gut, dass ich Sie noch erreiche. Jetzt halten
Sie sich fest …«
»Wo bist du?«
»Noch auf der Baustelle, in der Tiefgarage. Mit
Kronberger. Wir haben was gefunden. Können Sie noch herkommen?«
»Kann ich. Marsberg kommt mit.« Der nickte bestätigend
mit dem Kopf. »Wir schauen noch kurz im Büro vorbei. In einer Stunde sind wir
bei euch. Hast du von Jo gehört?«
»Ist ebenfalls auf dem Weg hierher. Die Ploc hat
gegenüber Jo die Darstellung von Karin Winter voll bestätigt. Und stellen Sie
sich vor …«
»Stopp – das will ich von Jo selbst hören.« Kalfass
konnte es einfach nicht lassen. Die übersteigerte Rivalität unter seinen
Mitarbeitern fiel Wolf zunehmend auf die Nerven.
Es war fast sieben, als sie im »Aquarium« eintrafen.
Marsberg schickte Preuss nach Hause, nicht ohne einige lobende Worte über seine
Fahrkünste zu verlieren. Dann gingen sie beide kurz in ihr Büro und trafen sich
wenig später auf dem Parkplatz wieder, um gemeinsam zum Corso zu fahren.
***
Am
Meersburger Fährhafen mussten sie eine halbe Stunde warten, bis sie übersetzen
konnten. Alle fünf Wartespuren waren belegt, in der Hochsaison durchaus keine
Seltenheit. Zum Glück herrschten angenehme Temperaturen, sodass sie sich die
Füße etwas vertreten konnten. Jetzt, kurz vor Einbruch der Dämmerung, hatte
sich doch noch die Sonne durchgekämpft und verbreitete ein mildes, fast
unwirklich schönes Abendlicht.
Während der Überfahrt stellte sich Wolf an den Bug des
Schiffes. Zum Ausklang dieses turbulenten Tages hatte er sich eine Gitanes
wahrhaftig verdient, wie er fand. Doch bereits nach wenigen Zügen schnitt er
ein Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen, und drückte den
Glimmstängel wieder aus. Die Zigarette schmeckte heute überhaupt nicht.
Außerdem war der Tag noch längst nicht zu Ende.
Marsberg hatte in der Zwischenzeit im Bordrestaurant
zwei Sandwiches erstanden, die sie bis zur Ankunft in Staad verdrückten. Eine
Viertelstunde später parkten sie ihren Wagen auf dem Baustellengelände vor der
Tiefgarage des Tourismuscenters. Kalfass’ Porsche und ein daneben abgestellter
Streifenwagen hatten ihnen auf den letzten Metern den Weg gewiesen. An der
Einfahrt standen zwei Streifenbeamte, um etwaige Neugierige am Betreten des
Gebäudes zu hindern. Zwanzig Meter weiter links parkte Jos
Weitere Kostenlose Bücher