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Seehamer Tagebuch

Seehamer Tagebuch

Titel: Seehamer Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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Familie.
     
     
     

13. Juli
     
    Zum vierten Male hat man einen alten Menschen in unserem Dorf auf der Straße angefahren und getötet. Sie konnten es nicht mehr genau genug einschätzen, wie rasch so ein Auto ist.
    Von Großmama stammt die Geschichte von dem Eingeborenenstamm, der seine Alten auf die Kokospalme schickt und unten am Stamm schüttelt. Wer sich noch festhalten kann, bleibt oben und am Leben. (Großmama schloß stets mit dem wehmütigen Scherz, nun sei es wohl bald Zeit für sie, auf die Kokospalme zu klettern.) Ein grotesker Gedanke, daß der moderne Verkehr womöglich bald an die Stelle der Kokospalmen treten wird.
     
     
     

14 . Juli
     
    Der Holunder wuchert über das Schuppendach. Ich mußte hinauf, ein paar Zweige abschneiden. Auf der obersten Leitersprosse schwebte ich über der Landschaft mit ihrem Sommerfrischlerbetrieb. Drunten an meiner Hecke ging ein Mädelchen vorüber, sechzehnjährig vielleicht. Aus ihrem tragbaren Radio sang eine Männerstimme. »Bist du einsam heut’ nacht...«, entrang es sich dem Handköfferchen. Wie ich höre, ist dieser Schlager bei allen Teenagern ungeheuer beliebt. Was soll ihnen darin eigentlich eingeredet werden? Ich schaute, von Zweigen zerkratzt und behindert, dem Mädelchen von oben nach. Wenn du meine Tochter wärst, dachte ich, und etwa nachts nicht einsam... Dir würde ich helfen!
     
     
     

15. Juli
     
    Mir ist zumute wie der Heldin eines Illustriertenromans. Etwas Tolles ist geschehen. Ein Freund hat uns zu einer Kreuzfahrt auf dem Mittelmeer eingeladen. Kommenden Dienstag fahren wir nach Rapallo, wo das Boot liegt. Ein Motorboot von zwanzig Metern Länge, das »Arabella« heißt. Mir geht es seitdem wie dem Mann, der sich aufs Pferd schwang, um in alle vier Windrichtungen zugleich davonzugaloppieren: Ich lasse meinen weißen Plisseerock reinigen, mir die Haare kurz schneiden (wegen des Tauchens im Salzwasser), lese in Goethes italienischer Reise nach, wann, ob und wo auch er auf dem Mittelmeer kreuzte, und halte Auslese unter den Blumentöpfen, die ich zur Nachbarin zum Gießen stellen muß. Der Glanz der großen Welt, der plötzlich auf mich fällt, blendet mich.
     
     
     

16. Juli
     
    Ich habe am Erdbeerbeet entlang zwanzig Meter abgeschritten. So furchtbar lang ist das gar nicht. Und die Motorjacht hat so viele Kabinen: eine große mit Duschbad für den Captain und seine Frau, die Gästekabine römisch eins mit Waschraum für mich und die römisch zwei für Michael. Außerdem natürlich Salon und Küche, die nun Kombüse heißt, Mannschaftslogis und Kommandobrücke, Besenkämmerchen und Eisschrank. Wie geht das bloß alles drauf? — Als Michael mich im Garten stelzen sah wie den Storch im Salat, schritt auch er nochmals zwanzig Meter ab. Er macht viel größere Schritte. Nun kann ich es mir eher vorstellen. Aber so groß wie die Schiffe, auf denen die Callas reist, scheint die »Arabella« nicht zu sein. — Ob sie ein Rettungsboot hat? — Aber das Mittelmeer ist ja immer ruhig. — So ruhig wie unser See hier ist es natürlich nicht, sagt Michael. — Mir wird schon in der Schiffahrtsabteilung im Deutschen Museum schlecht. Ich bin zur Apotheke gegangen und habe mir mehrere Mittel gegen Übelkeit gekauft. Der Apotheker, ein diskreter Mann, hatte alle Mühe, mich nicht prüfend anzublicken.
     
     
     

17 . Juli
     
    Unser ruhiges Leben ist von Grund auf verändert. Bei Tisch würzen unbekannte Begriffe die Unterhaltung: automatischer Pilot für Nachtfahrten, Küstenfunk, Echolot, Schirokko. Ich denke darüber nach, wer die acht Tage, die der Junge hier alleinbleibt, ehe auch er abreist, für ihn Geschirr spülen wird. Gewiß, auch er spült manchmal, aber nicht so sehr ab, es bleibt öfters noch was dran. In seinem Alter glaubt man, daß ein Kochtopf nur an der Innenseite, ein Teller nur an der Oberfläche schmutzig wird. — Ich wurde ermahnt, angesichts einer Märchenreise nicht ans Abwaschen zu denken, sondern mich etwas mit Geographie zu beschäftigen.
    Auf dem Teppich im Wohnzimmer liegt eine Karte der italienischen Küste. Man kann nicht mehr staubsaugen.
     
     
     

20. Juli
     
    Wir sind tatsächlich abgereist. (Wer hätte nicht bis zur letzten Minute Zweifel!) Es war wie bei jeder Reise: die ersten fünfzig Kilometer Autofahrt wurde ich innerlich mit aller Kraft nach rückwärts gezogen. (Habe ich die Hintertür wirklich abgeschlossen? — Ich hätte Dicki noch das hellblaue Hemd heraussuchen sollen...) Dann riß das

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