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Seehamer Tagebuch

Seehamer Tagebuch

Titel: Seehamer Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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Palast wohnen wird. Der Scheich hätte mehrere Millionen Entschädigung zahlen müssen, und nun kommt die Sache billiger. Teurer jedoch für das Mädchen. Hätten nicht die interessierten Parteien die Entschädigung hochgetrieben, so wäre sie nach Abflauen des Schlagzeilensturms vielleicht mit einem netten, jungen Mann glücklich geworden, der ihre Sprache spricht und mit dem man wirklich leben kann. Aber die Vorstellungen von »wirklich leben« sind eben verschieden.
     
     
     

3 . Juli
     
    Das lila Zeug, das mit seinem Honigduft alle Schmetterlinge anzieht, mein sogenannter Sommerflieder, blüht nun über und über. Die Japaner sagen, wenn ein Strauch blüht, soll man ein Fußbänkchen nehmen und es darunter stellen und dort eine Tee-Einladung für sich selbst geben. Das ist sehr weise. Wie oft blüht ein Busch umsonst, weil man sich gerade über die Berlin-Krise oder die Umsatzsteuer aufregt und gar nicht recht hinschaut. Das Fußbänkchen ist leider beim Johannisbeerpflücken unter mir zusammengebrochen. Aber heute abend nehme ich den Fußabstreifer und setze mich unter den Sommerflieder und tue fünf Minuten lang überhaupt nichts, nicht einmal denken.
     
     
     

4 . Juli
     
    Der eine Johannisbeerbusch trägt so kümmerlich. Man wird ihn ausreißen müssen. Schade. Die Johannisbeerernte war, als wir noch alle vollzählig beisammen waren, die Quintessenz des Sommers. Unzählige Erinnerungen verbinden sich mit ihr. In Häusern mit überwiegend weiblichen Insassen kocht man aus ihnen Gelee und Marmelade. Wo Männer regieren, wird Wein angesetzt. Bei uns auch.
    Das Haus krankte ja immer schon an Überforderung. Außer Versuchsbäckerei und chemischem Labor sollte es damals auch noch Kelterei sein. Unsere winzige Küche war natürlich viel zu klein, um bis zu drei Männern Asyl zu bieten, die Wein ansetzten. Bruder Leo kam selten ohne eine neue, verbesserte Küchenmaschine zum Zerkleinern und Durchtreiben der Beeren. (Nach getaner Arbeit durfte ich sie auseinandernehmen, reinigen und in ihre Originalschachteln verpacken. Besonders diejenigen, durch die nur eine Handvoll Rohmaterial gejagt worden war und die dann mit dem Ausruf: »Das Ding arbeitet ja völlig unrationell«, verworfen wurden.)
    Trotz sanften Protestes seitens des penibel gepflegten Michael, der ungern grüne Stengelchen und zerquetschte Beeren in seinen Haarbürsten findet, wurde das Badezimmer in, den Fabrikationsprozeß einbezogen. Der Handtuchverbrauch stieg stark an, da sämtliche Männer die Gewohnheit hatten, sich die safttriefenden Hände nur kurz unterm Hahn abzuspülen und dann an allem abzutrocknen, was länglich von der Wand hing. Die Klinken und Griffe klebten im ganzen Haus. An Staubsaugen und Kehren war nicht zu denken, denn überall standen Glasbottiche mit den empfindlichen Gär-Spunden. Die anderswo eingesparte Zeit brauchte ich für kleinere Arbeiten, die mir nun zufielen. Der Johannisbeersaft, der so stark färbt, hatte die Neigung, sich durch die Ritzen des altersschwachen Küchentisches ins Besteckschubfach darunter zu ergießen. In dem begreiflichen Drang, wenigstens diejenigen Dinge zu verstauen, die heuer nicht mehr gebraucht wurden, versuchte ich mir einen Quadratmeter freien Raum zu erkämpfen. Hierzu jedoch war meist eine Parlamentssitzung des Plenums notwendig. Was der eine schon verworfen hatte, brauchte der andere zur Aufmunterung seines träge gewordenen Gärbottichs. Zuckerlösungen wurden angesetzt und ein bißchen davon verschüttet: Miezi ging nur noch in Synkopen. Erst viel später erfuhr ich, daß ich den abscheulich riechenden Eimer im Bad ruhig hätte weggießen dürfen, denn der enthielt, im Unterschied zu allen übrigen, wertlosen Treber.
    Nach einer Weile trat eine Kampfpause ein. Ich wischte mit einem feuchten Lappen um die kostbaren Glasbottiche herum, aus denen es an warmen Tagen unermüdlich überschäumte. Es gluckste in den Wohnzimmerecken, als hielten wir Enten oder Frösche. Eines Mittags hieß es, nicht nur das Wohnzimmer naß wischen, sondern auch sofort alle nur verfügbaren Flaschen spülen. Heimlich trug ich Hohlmaße, in denen sich Wasserglas, Lebertran oder Olivenöl befunden hatte, zur Abfallgrube, um sie nicht reinigen zu müssen. Mehrere Waschkörbe voller Flaschen füllten Küche, Bad und Diele. Da ein Waschkorb dem anderen aufs Haar gleicht, kam es natürlich vor, daß Bruder Leo seine Extra-Cuvée in die noch nicht gespülten Flaschen füllte. Es fiel fast gar nicht auf. Ich kochte

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