Seehamer Tagebuch
acht war, hieß Zenta, und ihre Lieblingsbeschäftigung war, Erbsen auszupahlen. »Da sieht man doch, was man schafft«, pflegte sie zu sagen und schaute befriedigt in die Schüssel. Ich liebe die Fabrikation von Hörspielen aus dem gleichen Grunde.
Prosawerke wachsen so leise und unmerklich, daß man manchmal verzweifeln könnte. (Und wenn sie zu schnell wachsen, dann taugen sie hinterher nichts.) Auch haben sie in ihrer Entwicklung seltsame, unerklärliche Stockungen. Früher machte es mich rasend, wenn Michael, nachdem ihm endlich etwas eingefallen war, den Schreibtisch floh und entweder die Hecke schnitt oder den Wagen wusch oder sein Radio auseinandernahm. Oft ging ich einen ganzen Vormittag lang auf Zehenspitzen und verschob das Kleinholzmachen, weil ich glaubte, der Ärmste quäle sich gerade mit dem schwierigen Schluß des zweiten Kapitels in seinem Roman. Und wenn ich dann endlich in sein Zimmer trat, um ihn zum Essen zu bitten, dann saß dieser Mensch da und las in einer Autozeitschrift!
Im Laufe der Jahre habe ich gelernt, mich dem Phänomen des Prosa-Werdens anzupassen. Wenn ich mich drei Tage lang diskret zurückgehalten und nicht auf das in Michaels Maschine eingespannte Blatt geschielt habe, nur um am vierten Tag dort noch immer die gleiche Seitenzahl prangen zu sehen — dann schaue ich weg und tue so, als hätte ich mir tatsächlich nur eine Büroklammer leihen wollen.
Das Hörspiel aber wird längst vor Weihnachten fertig sein. Es ist eine wundervolle Abwechslung im Sinne der Köchin Zenta. Auch wenn es mich wahrscheinlich um mindestens zwei Sorten Pfefferkuchen bringt, die gerade jetzt unbedingt gebacken werden sollten, weil sie so lange ablagern müssen.
18. Dezember
Wie war das damals mit meinen Adventskalendern? Zuerst war das Bild dunkel und leer, dann wurde es mit der Zeit immer bunter und bewegter. Ich habe eine Variation dieser Vorfreudenspender neu für mich erfunden. Die leidigen »Glückwünsche zum Fest« in allen Farben und Formen, die künstlerischen und kitschigen, lieben, merkantilen, repräsentativen kommen alle mit Reißzwecken auf eine große Pappe an der Wohnzimmerwand, werden täglich mehr. So um den 22. herum müssen Onkel Peter aus Kopenhagen und der Kohlenhändler schon ein wenig zusammenrücken.
19. Dezember
Wieder überall die Sehnsucht nach weißen Weihnachten, dem Symbol des strengen Winters der Bilderbücher: »kernfest und auf die Dauer«, Sehnsucht nach der Welt der Großeltern, die wenigstens hierin in Ordnung gewesen zu sein scheint. Statt dessen schmutzig-grauer Übergang und auf manchen Gabentischen die Pauschalfahrkarte zu südlichwarmen Inseln, die Flucht in eine fremde Zwischenjahreszeit.
20. Dezember
Habe ich eigentlich als Kind bekommen, was ich auf den Wunschzettel geschrieben hatte? Wenn nicht, ist es mir frühestens nach Heiligdreikönig eingefallen. Wie stark muß der Glanz des Festes gewesen sein. Wie stark ist er noch immer. Auch diesmal wünsche ich mir Säckchen mit getrocknetem Lavendel und warme Einlegsohlen und bekomme statt dessen alles mögliche andere. Und bin nicht enttäuscht.
22 . Dezember
In der Kutsche, in der unsere kleine Familie durchs Leben fährt, sitzen Michael und der Junge in Fahrtrichtung, ich nach rückwärts gewendet. Ich sehe die Dinge erst wirklich, wenn sie vorüber sind und weit hinten in der Ferne verschwinden. Je näher Weihnachten kommt, desto weiter sehe ich zurück.
Wenn ich mit der Mama am 24. von der Markuskirche in der Amalienstraße zur Bescherung heimging, wurde es dunkel und kalt. Mach schön den Mund zu, sagte die Mama. Bei jedem zehnten Schritt mußte ich in gewaltiger Vorfreude ein bißchen hopsen, und die Wollstrümpfe kratzten. Ich fragte, ob hinter dem erleuchteten Fenster hier, da, dort drüben auch bestimmt, ganz bestimmt jetzt alle Leute glücklich wären. Was hat die Mama geantwortet? (Sie war gewarnt, meine Tränenströme über alles, was arm und unglücklich war, hatten sie so manche halbe Stunde Wiegen und Trösten, so manches Glas Zuckerwasser und Baldriantropfen gekostet. Andersens Märchen vom kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzern durfte nicht mehr vorgelesen werden.) Sicherlich habe ich gar keine Antwort erwartet. Die Erwachsenen würden sich der Sache schon irgendwie annehmen.
Nun bin ich erwachsen. Nun wäre es an mir, das Helfen und Trösten, bei den vielen, die den Heiligen Abend bagatellisieren und versachlichen
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