Seehamer Tagebuch
müssen, weil ihnen sonst das Herz zu schwer würde. — Gestern sagte jemand zu mir: »So ein Heiliger Abend geht ja auch vorbei, und am ersten Feiertag essen wir meist recht gut.« Auch solche Menschen werden hinter den erleuchteten Fenstern gewesen sein, damals schon.
23. Dezember
Alles ist fertig verpackt. (Mein Kleiderschrank geht vor Päckchen nicht mehr zu.) Die »Ordnung für das Christkind«, auf die in der Kinderstube so streng geachtet wurde, ist hergestellt. Unter den Geleegläsern müßte natürlich noch feucht gewischt werden, aber darauf kommt es nicht an. Die Briefe sind beantwortet, die Rechnungen bezahlt, und weil ich nach den Feiertagen immer etwas überfressen und unlustig bin, sind auch die guten Vorsätze fürs neue Jahr schon jetzt gefaßt. Übrigens: Was würde ich tun, wenn ich wüßte, daß es mein letztes ist? Dasselbe! (Nun ja, und mir außerdem vielleicht den Persianermantel zurückkaufen, den Mama in den schlimmen Zeiten hat hergeben müssen. Vielleicht. Nur wenn es wirklich das letzte wäre.) Morgen vormittag werden wir, wie seit Jahren, allen Vemunftgründen zum Trotz, einen weiten Spaziergang zu unbekannten Dorfkirchen machen. (Ein wunderbares Rezept gegen die Hetzerei der Hausfrau.) Und nach Tisch kommt die stillste Stunde des ganzen Jahres, in der ich hinter verschlossener Tür den Baum schmücke. Nichts kürzt sie ab, man kann sie gar nicht abkürzen, denn wenn man eilig wird, hängt nachher die Lametta schief. In völliger Ruhe kann man daher weit in die Ferne denken, an alle Freunde, an alle, die jetzt irgendwo auf der Welt den Baum schmücken, an die liebsten Lebenden, die liebsten Toten. Da wir Silvester meist nicht allein sind, ist dies der Augenblick des Jahresabschlusses himmlisch-irdischer Konten und die Dividendenausschüttung all der Liebe, die ein Jahr lang in mich investiert worden ist.
Dann erst öffne ich die Tür.
28. Dezember
Von allen Seiten kommen Berichte, wie schön, wie gemütlich, wie ganz besonders Weihnachten heuer war. Einige wissen sogar, warum: Unsicherheit und Bedrohung haben das gesteigerte Lebensgefühl der bösen Jahre wiedererweckt. Für viele ist daher die kostbare Stunde noch kostbarer, vielen schmeckt die Gänseleberpastete deshalb so unvergleichlich, weil sie nicht sicher wissen, ob sie sie nächstes Weihnachten noch kriegen werden. Und für andere wiederum verwandelt sie sich gerade bei diesem Gedanken in Sägemehl.
29. Dezember
Der vergilbte, fleckige, bekritzelte Wandkalender (1100 Gramm wiegt der große Einkochtopf leer, die Putzfrau hat 2.20 gut, 8 Wochen reicht die größere Propangasflasche) ist abgerissen und verheizt, der neue an die Wand genagelt. Suchend schaut man sich darauf um, wie auf einer Luftaufnahme, um bekannte Punkte zu entdecken. Ostern ist spät, es wird also schon recht warm sein. Dickis Geburtstag fällt auf einen Sonntag, vielleicht bekommt er Urlaub. Es ist das Pfeifen eines Kindes im Dunkeln, das sich Mut macht. Denn was da hängt, ist das Antlitz der Sphinx, das Unbekannte, das wir fürchten, ist darin versteckt. Verschlossen und lauernd nennen sich Tage Kamillus, Arbogast oder Joh. v. Cap., an denen uns unerhörtes Glück begegnen oder der Blinddarm durchbrechen kann (von der Politik einmal ganz abgesehen!). »Herr General haben wohl Angst?« fragte der forsche frischgebackene Leutnant im Feuer den Deckung suchenden Erfahrenen. »Wenn Sie so Angst hätten wie ich, mein Junge, wären Sie gar nicht mehr hier«, sprach der Ältere milde.
1. Januar
Warum nur sind die Kirchenglocken im Radio, die das. neue Jahr einläuten, so ergreifend, viel ergreifender als etwa Beethovens Neunte? Nun, weil man dabei den Atem der Zeit wirklich zu hören meint, aus Ehrfurcht vor dem Alter dieser erzenen Bässe und Tenöre? Oder weil die Phantasie den nächtlich-kalten, leeren Platz, auf dem sie stehen, so deutlich sieht, die kalkigweißen Straßenlaternen, den hohen Turm, der sich nach oben im Dunkeln verliert?
»Sehr rührend«, sagte jemand ganz Gescheites von oben herab, als er Feuchtigkeit in meinen Augen bemerkte. »Die Tränen beim Sekt«, sagte ich, »kommen daher, mein Herr, daß mir immer die Kohlensäure in die Nase steigt.«
4. Januar
Morgen kommen, wenn es dunkel wird, die Heiligen Drei Könige. Sie gehen durchs Bauernhaus, ihre unsichtbaren Brokatmäntel schleifen über die Schwelle von Stall, Küche, Milchkammer und Schuppen. Zurück
Weitere Kostenlose Bücher