Seeherzen (German Edition)
dass die ohne sie verhungern müssen?»
Bee lachte und wies mit ausladender Geste auf den dicht besiedelten Weg. «Ja, sie sind eindeutig schon ganz krank vor Sorge!»
Ich verkroch mich wieder in meinem Bett. Mum ließ die Mädchen ihren speziellen Heiltee zubereiten. Sie machten ihn ungewöhnlich stark und bitter, und ich trank ihn ohne jeglichen Protest; es erschien mir nur die gerechte Strafe für das zu sein, was ich dem Dorf angetan hatte. Dann wandte ich mich ab und presste wieder die Hände vors Gesicht.
«Komm schon, Missk, du hast kein Fieber», sagte Tatty und befühlte meinen Nacken, da ich die Stirn fest an die Wand gedrückt hielt.
«Es springt alles hin und her», sagte ich. «Mein Kopf ist voll davon, und wenn ich die Augen aufmache und mich umgucke, wird es noch schlimmer.»
Daraufhin sprachen sie von Ärzten und von Hirnhautentzündung; nie zuvor hatte ich mir so sehr gewünscht, an einer Krankheit zu leiden, einer ganz gewöhnlichen irdischen Krankheit. Doch da ich weder phantasierte noch Fieber hatte oder mich übergab, fand Mum, es wäre noch nicht nötig, den Arzt zu rufen. Stattdessen kamen sie und meine Schwestern abwechselnd an mein Bett, beäugten mich argwöhnisch und äußerten ihre Vermutungen. «Sie ist auf jeden Fall ziemlich verstört», hörte ich Mum in der Diele flüstern. «Wird sie in der Schule vielleicht schikaniert?» Tatty erwiderte absichtlich laut: «Sie ist nur ein elender Faulpelz, der mal ’ne ordentliche Tracht Prügel braucht.»
Mir war beinahe egal, was sie sagten oder dachten, so lange ich nur hier liegen bleiben und mir die Augen zuhalten konnte, außer Sichtweite der Robben, geschützt vor dem Licht, das an den Rändern verwischte und flackerte.
Am nächsten Morgen bedeckten die Robben wie ein Teppich den gesamten Weg zu unserem Haus. Ich stand auf, denn wenn ich mich weiterhin im Bett versteckt hätte und die Robben in meiner Nähe liegen geblieben wären, anstatt sich zur Schule vorzukämpfen, wäre klargeworden, hinter wem sie her waren. Also durchlitt ich einen weiteren flackernden Tag und sah den anderen Kindern grimmig zu, wie sie beim Anblick der Robben nervös kicherten oder sich ihnen wagemutig näherten. Am Nachmittag verkroch ich mich wieder im Bett. Meine Schwestern überließen mich meiner Misere, die sie mittlerweile langweilte.
Gegen Abend nahm ich im Halbschlaf ein Klopfen an der Haustür wahr. Dann öffnete sich knarrend die Tür zum Schlafzimmer, und das Licht einer Laterne erhellte die Wand über mir.
«Missk, Missk?», sagte Dad.
Schlaftrunken und widerwillig wandte ich mich der leuchtenden Flamme in der Laterne zu. Auch Mum stand dort, außerdem ein Junge, ein ziemlich großer. Als Dad mit der Laterne näher trat, erkannte ich Ambler Cartney. Ambler gehörte zu den muskulösen, gut aussehenden Kerlen, denen ich lieber aus dem Weg ging, wenn ich keinen Ärger riskieren wollte.
«Ambler möchte dir eine Kleinigkeit schenken», sagte Dad.
Schwerfällig richtete ich mich im Bett auf und fühlte mich genau wie eine Robbe, die sich auf einen Felsvorsprung hinaufwuchtet. Aus zusammengekniffenen Augen blickte ich sie an und hob die Hand, um mich vor dem blendenden Licht der Laterne zu schützen. «Was für eine Kleinigkeit?»
«Toffees», sagte Ambler und sah mich dabei aufmerksam an. «Aus Cordlin. Sie sind ziemlich alt.» Er hielt mir ein Päckchen hin, das in bunt gemustertes Papier eingeschlagen und mit einer ausgeblichenen goldenen Schleife umwickelt war.
«Toffees.» Ich nahm sie und betrachtete das Päckchen auf meinem Schoß.
«Was sagt man da?», fragte Mum in scharfem Ton.
Ich hielt das glatte Päckchen in der Hand und befingerte die verschlissene goldene Schleife. «Wer verschenkt denn jetzt Toffees?», wunderte ich mich. Ambler stand aufrecht zwischen Mum und Dad, lehnte sich ein wenig zurück und betrachtete mich, als hätte er mich noch nie zuvor gesehen – was vermutlich stimmte. «Und ausgerechnet von dir, wo du noch nie ein Wort mit mir geredet hast?»
«Oh, die sind doch nicht von mir», sagte Ambler fröhlich.
«Sie sind von seiner Urgroßmutter», sagte Dad.
«Ausgerechnet», murmelte Mum.
«Die zu gebrechlich ist, um sie persönlich vorbeizubringen», fuhr Dad fort, «in ihrem hohen Alter.»
«Ich soll dir von ihr ausrichten», sagte Ambler, «dass du bekreuzigt rumlaufen sollst.»
«Bekreuzigt?»
«Um dich vor der Robbenliebe zu schützen. Davor, dass sie dich lieben und umgekehrt.»
«Was meinst du mit
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