Seeherzen (German Edition)
in meinen Händen. Ich stellte sie beiseite und nahm die Verbandsrolle an mich. Ich erinnerte mich an Billys aufgeschnittenes Bein. Er hatte weder geweint noch gejammert, sondern lediglich die Tiefe und Länge seiner Verletzung bestaunt, den glänzenden Knochen, der an einigen Stellen aus der gesäuberten Wunde hervortrat. Als Mum ihm den Verband umgewickelt und das klaffende Fleisch der Wunde zusammengebunden hatte, damit sie verheilen konnte, hatte er zwischen zusammengebissenen Zähnen zischend die Luft eingesogen. Er hatte es wie ein echter Junge ertragen – ohne Tränen, mit versteinerter Miene, blutverschmiert.
Ich rollte den Verband ganz auf, suchte die Mitte und legte sie mir über eine Schulter. Ich führte das Band auf Vorder- und Rückseite quer zur Taille hinunter, überkreuzte die Bänder, wickelte sie mir um die Körpermitte und zog sie auf der anderen Seite wieder quer hinauf.
In dem Moment, in dem die Bänder oben neben meinem Ohr wieder zusammentrafen, wurde ich von Ruhe durchflutet, und das lichtlose Flackern zog sich aus allen Dingen zurück. Mein Herz hämmerte noch eine Zeitlang vor sich hin, doch je länger die Stille andauerte, desto ruhiger wurde es schließlich auch. Ich hielt die Bänder zusammen und weinte ein bisschen wegen all der Ängste, die ich in den letzten beiden Tagen ausgestanden hatte, und aus Erleichterung, von ihnen befreit worden zu sein, darüber, dass es ein einfaches Heilmittel gab, und aus Dankbarkeit gegenüber Ambler Cartneys Urgroßmutter, die gutmütig und dickköpfig genug gewesen war, um mir das Heilmittel überbringen zu lassen. Durch die Wand zur Küche drangen das fasziniert-verschreckte Gemurmel meiner Schwestern, Dads beruhigendes Rumpeln und von Zeit zu Zeit ein leises Zischen von Mum zu mir herüber. Ich stand vom Bett auf und zog mich aus, wobei das Dröhnen wieder anschwoll, dann umwickelte ich mich wieder mit der Verbandsrolle, knotete die Enden diesmal zusammen, zog mir in der wundersamen Stille das Nachthemd über, faltete meine Kleider zusammen und versteckte die Toffee-Schachtel dazwischen. Im Lichtschein der Laterne, in der Stille und seligen Einsamkeit legte ich mich ins Bett und sank kurz darauf in tiefen Schlaf.
Ein Morgen im Hochsommer. Tatty war als Erste an der Tür.
«Oh, guckt mal!» Sie schwang die Tür weiter auf und bückte sich, verschwand hinter den anderen. «Ja was haben wir denn da? Etwas
Hübsches
. Und eine Nachricht ist auch dabei! Oh!» Der Wind musste die Nachricht fortgeweht haben, denn Tatty hüpfte zur Tür hinaus.
Wir drängten uns auf die Stufe und beobachteten, wie sie dem Stück Papier auf der Straße hinterherlief und es schließlich mit dem Fuß zum Anhalten zwang. Sie kam zurück; in einer Hand hielt sie die Nachricht, in der anderen einen glasierten Krapfen, der von Kandiszuckerstückchen gekrönt wurde. Missmutig warf sie einen Blick auf den Zettel und glättete ihn mit dem kleinen Finger der Krapfen-Hand. «Das ergibt keinen Sinn – ach so, ich hab es falsch rum gehalten! Also: ‹Für die … für die …›», sie hielt inne und guckte noch mürrischer.
«Lass mich mal sehen.» Ann Jelly rutschte von der Stufe hinunter.
Doch Tatty hielt Krapfen und Nachricht von ihr weg. «‹Kleine›, steht da! ‹Für die Kleine.› Die Kleine?»
«Das kann nur Misskaella sein», sagte Lorel.
Sie wichen vor mir zurück und blickten mich von oben herab an.
«Ich bin nicht klein.»
«Nicht in der Breite, das stimmt wohl», bemerkte Billy. «Aber von der Höhe bist du die Kleinste in unserem Haus – von der einen oder anderen Maus mal abgesehen.»
«Dann nimm ihn halt», sagte Tatty eifersüchtig. Sie drückte mir Krapfen und Zettel in die Hand und klopfte sich die Hände ab. «Kommt, wir gehen.»
«Sie kann ihn doch nicht einfach so
nehmen
!», protestierte Ann Jelly. «Sie kann ihn doch nicht einfach so
essen
!»
«Wieso denn nicht?», fragte Billy. Er hatte sich nicht vom Fleck gerührt, konnte sich nicht vom Anblick des Krapfens losreißen.
«Was gibt’s denn da draußen? Doch hoffentlich nicht schon wieder Robben?» Dad war im Türeingang erschienen.
«Hier, guck mal, Dad, wer hat so eine Handschrift?» Bee entriss Tatty die Nachricht und hielt sie ihm hin. «‹Für die Kleine.›» Er ließ den Zettel sinken, blickte mich und den glänzenden Krapfen an, dann hielt er sich die Nachricht wieder vor die Augen. «Das muss jemand Altes sein, so geschwungen und zittrig, wie die Schrift aussieht. Jemand
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