Seeherzen (German Edition)
reichte sie mir fast bis zur Taille.
«Was wollen die bloß hier oben im Dorf?», fragte Bee und legte grübelnd die Hände ans Kinn.
«Wahrscheinlich das, was sie immer wollen, wenn sie an Land kommen», meinte Mum.
«Sie wollen Bee zu einem Pfannkuchen zerquetschen!», rief Billy, den Kopf zur Tür hinausgestreckt.
Mum versetzte ihm mit dem Geschirrtuch einen Schlag auf den Hinterkopf. «Sie brauchen mal Abwechslung vom Meer, wollen sich die Sonne auf den Pelz scheinen lassen oder ihre Jungen aufziehen – ich hoffe, dass sie
das
nicht ausgerechnet auf unserer Straße vorhaben! Bestimmt haben sie sich verirrt, das ist alles, sie haben sich auf dem Weg zur Bucht verlaufen. Es ist ja genug Platz dazwischen. Drückt euch an der hier vorbei und haltet von den anderen möglichst viel Abstand. Sie können sich nicht schnell bewegen, und sie sind bestimmt nicht gekommen, um euch aufzufressen. Komm schon, Missk, komm, Tatty – wenn die großen Mädchen zu viel Angst haben, müssen die kleinen eben vorausgehen!»
Wir blieben noch einen Augenblick zögernd auf der Stufe stehen, dann rannten wir los; schreiend und kichernd hüpften meine Schwestern zwischen den Robben hindurch, ich folgte ihnen schweigend und mit einem flauen Gefühl im Magen. Jede Robbe, an der ich vorbeilief, rollte herum und drehte den Kopf in meine Richtung. Ich sah sie nicht an, wollte nicht zeigen, dass mich etwas mit ihnen verband, dass wir uns kannten. Die Hauptstraße war bis unten hin mit ihren dicken Körpern übersät. Vermutlich waren sie um die Klippen herumgeschwommen, statt sich die ganze Strecke über den Klippenpfad und die Straße hinaufzuackern. Ich lief bergauf; dort lagen keine Robben, die uns den Durchgang versperrten. Sie hatten sich bis zum Haus der Prouts vorgekämpft und keinen Millimeter weiter.
Als man uns am späten Vormittag zur Pause auf den Hof hinausließ, waren die Robben auf halber Höhe des Hügels angelangt und drängten sich auf der Hauptstraße dicht zusammen. Bei Schulschluss hatten sie bereits das Tor erreicht; einem silberfarbenen Koloss war es gelungen, sich in den Eingang hineinzuwuchten, wo er nun in seiner ganzen Massigkeit herumlag. Mr. Wexford musste sich zwischen uns und die Riesenrobbe stellen, während wir quiekend daran vorbeihuschten, sonst hätten sich die ängstlicheren Mädchen und die kleineren Jungs überhaupt nicht hinausgetraut.
Als wir nach Hause kamen, erzählte Mum uns von dem Bullen, der an Land gekommen war: Er hatte sich wie wild am Ufer gewälzt, die Leute zu Tode erschreckt und einen von Fishers kleinen Karren zertrümmert. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich vorgehabt, zum Meer hinunterzuschlendern, in der Hoffnung, die Robben so aus dem Dorf fortzulocken, doch jetzt schien mir dieser Plan doch zu waghalsig. Ich ließ mich aufs Bett fallen, drehte mich zur Wand, rollte mich zusammen und schlug die Hände vors Gesicht. Ich war völlig erschöpft von der unsichtbaren Helligkeit, die mich vereinnahmte und durchströmte. Ich weigerte mich, meine Hausarbeiten zu erledigen oder auch nur die Hände vom Gesicht zu nehmen. Meine Schwestern kamen und gingen und rätselten, was mit mir los war, befühlten meine Stirn, warfen mir vor, ich sei faul, doch keine von ihnen konnte mich überreden oder durch ein schlechtes Gewissen dazu bringen, das Bett zu verlassen. Ich schlief, was mir ein wenig Erleichterung verschaffte; als ich aufwachte, hielt ich die Augenlider fest geschlossen, um das Flackern nicht hereinzulassen, und lauschte den Lauten der Robben, die sich draußen auf dem Weg versammelten, sich rutschend über die Pflastersteine schoben und dann und wann einen ihrer schauderhaften Schreie ausstießen. Durch den tosenden Wind hindurch, den außer mir niemand wahrnahm, hörte ich meine Schwestern und meine Mutter am Türeingang sprechen, die Menschen draußen, eine Gruppe Männer, die von Wholemans Pub heruntergekommen waren und versuchten, die Robbenherde mit Gebrüll und Ruten zu vertreiben. Würde dieses Flackern und Zittern um mich herum denn nie aufhören?
Den ganzen restlichen Tag über lag ich beschämt und verängstigt in meinem Bett, nur ab und zu ging ich kurz zum Hauseingang und sah entsetzt, wie dicht gedrängt die Robben dort mittlerweile lagen. Menschen standen um sie herum, drängten sich zwischen ihnen hindurch, riefen sich etwas zu und lachten über diesen grandiosen Scherz.
«Und was ist mit ihren Babys?», fragte ich Bee. «Den Babys in der Bucht? Ist ihnen etwa egal,
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