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Seeherzen (German Edition)

Seeherzen (German Edition)

Titel: Seeherzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margo Lanagan
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‹bekreuzigt›?»
    «Bekreuzigt heißt vorn und hinten mit überkreuzten Bändern.» Mit dem Daumen malte er sich ein großes X auf die Brust, dann auf den Rücken.
    «Und was für Bänder?»
    Er zuckte die Achseln. «Mit Bändern, hat sie nur gesagt, überkreuzte Bänder. Keine Ahnung, was für welche. Ich überbring dir nur, was sie gesagt hat. Gran-Nan ist so alt wie Rollrock selbst und weiß ’ne Menge.»
    «Ich glaube, davon hab ich schon mal gehört», sagte Dad nickend. «Von diesem Überkreuzen. Ich erinnere mich, dass früher ein paar alte Männer und Frauen solche Kreuze über der Kleidung trugen.»
    «Und ich bin absolut sicher, dass ich noch nie davon gehört habe!», sagte Mum. Im Schein der Laterne wirkte ihr Gesicht furchteinflößend. «Und was hat Misskaellas Krankheit überhaupt mit diesen Robben zu tun? Tratscht etwa die ganze Stadt über meine Tochter?», fragte sie Ambler. «Und jeder gibt seinen Senf dazu?»
    «Nein, nein», sagte er. «Es ist nur so ’ne fixe Idee von Urgroßmutter. Mum und Dad haben mich hergeschickt, damit sie ihnen damit nicht immer weiter in den Ohren liegt. Sie hat sich da richtig reingesteigert, ist ganz verrückt vor Sorge und redet nichts als Unsinn.»
    Ich blickte in sein ruhiges, kluges Gesicht. Wie unterschiedlich andere Familien doch waren, ihr Aussehen, ihre Ansichten, die Kinder, die darin aufwuchsen.
    «Na dann, vielen Dank», sagte ich schließlich. «Bekreuzigt rumlaufen. Ich werd’s mir merken.» Ich hielt die Toffee-Schachtel in den Händen, und wie alles andere in diesem Zimmer, in diesem Haus, in diesem Dorf, schien sie einem äußerst merkwürdigen Traum entsprungen zu sein. Ich war dankbar für ihre solide, schwere Beschaffenheit, ihre hübsche Oberfläche; in dem herauftosenden geräuschlosen Sturm klammerte ich mich daran fest.
    «Na bestens», sagte Ambler, «dann hab ich meinen Auftrag ja ausgeführt.»
    Der Glanz und die Schönheit der Schachtel verblassten, als Dad die Laterne wegnahm. Auf dem Weg nach draußen bedankte er sich ununterbrochen bei Ambler und bat ihn, seiner Urgroßmutter unsere allerbesten Grüße auszurichten.
    Mum war bei mir im Zimmer geblieben, thronte als steifer Schatten über mir. «Hast du das
wirklich
alles gemacht?», fragte sie mit tiefer, bedrohlicher Stimme.
    Inmitten des ganzen Lärms tastete ich vergeblich nach der Bedeutung ihrer Worte. «Was alles?»
    Sie machte eine ruckartige Handbewegung, und ich zuckte zurück, doch sie hatte nur auf den Weg vor unserem Haus deuten wollen. «Diese …
Viecher
hergeholt. Besitzt du diese Macht?» Gelbes Licht schaukelte schief die Dielenwand entlang. Dad hielt die Laterne vermutlich hoch, damit Ambler sich den Weg zwischen den Robben hindurchbahnen konnte. «Und hast damit», fuhr sie noch empörter fort, «die
Aufmerksamkeit
von geschwätzigen alten Leuten wie Doris Cartney auf uns gezogen? Ihren Urenkel hierherzuschicken! Damit es auch bloß jeder mitbekommt!», schnaubte sie wütend neben mir.
    «Das wollte ich nicht», sagte ich kleinlaut. «Ich wusste nicht –»
    «Aber du hast es
getan
.» Wieder fuhr ich erschreckt zusammen, als Mum mit der Hand auf die Tür deutete. «Du hast es getan, ganz egal, ob du es nun vorhattest oder nicht.»
    Dann war sie weg, und Dad erschien wieder im Türrahmen. Ich hob die Toffees in den Schein der Laterne hinein, um sie ihm zu zeigen. Hilflos blickten wir einander an.
    Dann kam Mum zurück; sie hielt Dad etwas hin. «Von Billys Schnittwunde», sagte sie, «an seinem Bein, als er damals auf den Felsen an der Mole rumgeblödelt hat.» Sie warf die Bandage über das Bett zu mir herüber, sodass sie sich löste und beinahe hinuntergerollt wäre, wenn ich sie nicht aufgefangen hätte. «Wickle dir das um, so wie er’s dir erklärt hat», stieß sie mit schriller Stimme hervor, «vorn und hinten über Kreuz. Und trag es Tag und Nacht. Ich werde mir kein weiteres Mal eine solche Schande bereiten lassen. Lass ihr die Laterne da», wies sie Dad an. Ihre Stimme klang wieder so tief, als gehörte sie einer anderen Person. Sie riss Dad die Laterne aus der Hand und setzte sie auf der Türschwelle ab, als sei sie zu verängstigt oder angewidert, um sich weiter zu mir ins Zimmer vorzuwagen. Dann funkelte sie mich ein letztes Mal an und zog die Tür zu. Ich hörte, wie sie in die Küche gingen und von meinen Schwestern mit Fragen bestürmt wurden.
    «Toffees», flüsterte ich – das Wort lag so schwer und gehaltvoll in meinem Mund wie die Schachtel

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