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Seejungfrauen kuesst man nicht

Seejungfrauen kuesst man nicht

Titel: Seejungfrauen kuesst man nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
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oder besonders beschränkt oder klug, wurden auf ähnliche Weise zur Zielscheibe. Mir fiel plötzlich auf, dass ich von mehreren Gruppen der Klasse geschnitten wurde; der Tisch neben mir blieb leer; Kinder, die noch in der Woche zuvor meine Freunde gewesen waren, ignorierten mich, wenn ich sprach, oder diskutierten über mich, als wäre ich nicht vorhanden. Wenn ich in den Garderobenraum kam, erstarb das Gespräch, und dann wurde auf unnatürliche Weise das Thema gewechselt. Doch dann, ebenso plötzlich, ohne jede Vorwarnung, hörte all das auf, und Sandra hielt mir beim Mittagessen einen Platz frei, teilte ihre Chips mit mir und erzählte mir ihre Geheimnisse, und ein paar Tage lang war das Leben wieder schön. Es ist seltsam, dass wir Opfer nie daran dachten, uns zusammenzutun und eine eigene rebellische Bande zu gründen, aber wir hassten uns gegenseitig. Und Sandras Methoden waren zu subtil, um einen Aufstand zuzulassen: Es wurde immer nur einer schikaniert, und wenn ich es einmal nicht war, war ich so dankbar, dass mich nichts dazu gebracht hätte, die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, indem ich für den Sündenbock jener Woche Partei ergriff. Ich war so rückgratlos, feige und demoralisiert, dass ich mich in den Fällen, in denen Sandra Freundschaftsangebote in meine Richtung machte, vollkommen erniedrigte, was sogar so weit ging, dass ich es stillschweigend billigte, wenn auf einer meiner Leidensgenossinnen herumgehackt wurde. Aber diese Zeiten waren seltener als die, in denen ich an der Reihe war, jedenfalls erschien es mir so; ich lief einen unendlichen Korridor entlang, vorbei an einer Kolonne grinsender Mädchen, oder ich saß allein an meinem Tisch und träumte von der imaginären Schwester, deren Loyalität absolut wäre. In den Pausen war es am schlimmsten, denn dann wurden wir alle aus der relativen Sicherheit des Klassenzimmers in die düstere Wildnis des Spielplatzes hinausgeworfen, wo eine einzige Lehrerin mit einer Trillerpfeife um den Hals alles war, was zwischen mir und allen unvorstellbaren Grausamkeiten stand, die nur möglich waren. Sich im Klo zu verkriechen, kam nicht in Frage, weil Sandra und ihre Bande die Mädchentoiletten als eine Art Hauptquartier nutzten, und dort hineinzuschlendern wäre als ein Akt der Provokation aufgefasst worden. Indem ich mir zum Frühstück und zum Mittagessen jede Flüssigkeitszufuhr vorenthielt, hatte ich es geschafft, den ganzen Tag nicht aufs Klo zu müssen. Wenn es sich doch einmal nicht vermeiden ließ, bat ich während des Unterrichts darum, entschuldigt zu werden - an sich schon eine Demütigung -, was mir den Ruf einbrachte, eine schwache Blase zu haben.
    Meine Eltern waren gegen meine dauernde Verzweiflung machtlos. Jeden Sonntagabend quälte ich mich, um die Symptome einer neuen Krankheit zu entwickeln, die ausreichen würde, um am Montag zu Hause bleiben zu dürfen.
    »Kannst du dir keine anderen, netten Freundinnen suchen?«, fragte Mutter eines Abends, als ich im Bett saß und in meinen Kakao schniefte - ein Tiefpunkt, ich weiß noch.
    »Nein. Es ist keine mehr da. Wenn Sandra mich ignoriert, tun es alle.«
    »Was ist mit den anderen Mädchen, auf die sie es abgesehen hat? Kannst du dich nicht mit einem von ihnen anfreunden?«
    »Die will ich nicht als Freundinnen. Ich will normale Freundinnen«, schluchzte ich.
    »Unterbindet die Lehrerin so was nicht?«
    »Sie kriegt es nicht mit.«
    »Tja, warum sagst du es ihr dann nicht? Dieser Sandra sollte es nicht erlaubt sein, dir das Leben zur Hölle zu machen. Und mir«, fügte sie hinzu.
    Doch Petzen, das wusste ich instinktiv, ohne dass man es mir je gesagt hatte, war das schlimmste Verbrechen von allen, für das Sandra sich bestimmt schon die ultimative Bestrafung ausgedacht hatte.
    Aber da gab es eine Schülerin - ein Mädchen namens Ruth Pike die sogar noch bedauernswerter war als ich. Sie war nicht nur beschränkt, sondern auch von schrecklichem Hautausschlag geplagt, der ihre Hände, ihr Gesicht und ihre Beine mit roten Schuppen bedeckte, sodass sie kaum noch eine daumennagelgroße Stelle unbeschädigter Haut am Körper hatte. Als wäre das nicht schon schlimm genug, hatte sie schlimmes Asthma, was bedeutete, dass sie dauernd in ein kleines Plastikgerät schnaufte und keuchte. Ihr erschreckendes Aussehen machte sie zur natürlichen Zielscheibe des Spottes, und oft fand man sie hinter den Mänteln im Garderobenraum versteckt, wo sie vor sich hin schniefte und versuchte sich unsichtbar zu machen.

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