Seejungfrauen kuesst man nicht
Überflüssig zu sagen, dass mein Mitleid mit ihr nicht für eine Freundschaft reichte. Sosehr ich mich auch bemühte, ich mochte sie nicht. Wegen ihrer vielfältigen Gebrechen und wahrscheinlich auf Grund ihrer unglücklichen Erfahrungen in der Schule war sie oft nicht da, und wenn ich ihren marineblauen Regenmantel mit den Fausthandschuhen, die immer noch kindlich mit Zwirnband an den Ärmeln festgenäht waren, an ihrem Haken sah, füllte sich mein feiges Herz mit Erleichterung, weil ich wusste, dass an diesem Tag sie und nicht ich das Opfer sein würde.
Eines Montagmorgens im Frühling, nach einer besonders schlimmen Woche, in der ich mich jeden Abend in den Schlaf geweint hatte und Mutter nur durch meine flehentlichen Bitten davon abgebracht werden konnte, sich bei meiner Klassenlehrerin zu beschweren, stellte ich, als ich in die Schule kam, fest, dass übers Wochenende eine wundersame Verwandlung stattgefunden hatte und die Sonne von Sandras Gunst wieder auf mich herablächelte. Sie saß an dem freien Tisch neben meinem, strich über den Flor ihres flauschigen Schreibmäppchens und sah unter ihrem Pony zu mir auf. Für jemanden mit solcher Macht sah sie seltsam harmlos aus. Sie war klein für ihr Alter, mit sehr blasser, fast albinotischer Haut und weißblondem Haar, das sie immer in zwei dünnen Rattenschwänzchen trug, die ihr bis zur Taille reichten. Ihre blassblauen Augen mit den farblosen Wimpern verliehen ihr ein leicht verwaschenes, unvollendetes Aussehen, wie ein Gemälde, das noch ein paar Konturen braucht. Ihre Schwester, Julie, die schon die Highschool besuchte, war angeblich noch gefährlicher. Zurzeit machte in der Klasse ein Gerücht die Runde, dass sie den Kopf eines Mädchens ins Klo gesteckt und an der Kette gezogen hatte, weil es ihr nicht den gebührenden Respekt erwiesen hatte eine Strafe, die als Lokuswaschen bekannt war. Mein Entschluss, die Mädchentoiletten zu meiden, war mir noch nie so weise vorgekommen.
»Hallo«, sagte Sandra. »Nicky ist heute krank, deshalb sitze ich neben dir. Ich habe ein paar neue Bleistifte. Möchtest du einen?« Sie schüttete den Inhalt ihres Schreibmäppchens auf den Tisch, und zum Vorschein kamen ein halbes Dutzend Drehbleistifte, die nach Früchten rochen.
»Wirklich?«, sagte ich, für den Fall, dass es ein Bluff war.
»Ja, mach nur, nimm den hier. Ananas ist am besten.«
Wir waren gerade dabei, an jedem Einzelnen zu schnuppern und die Düfte zu vergleichen, als Ruth Pike hereinkam und sich setzte. Sie hatte einen der wenigen Einzeltische am Rande des Klassenraums, die von den Kindern belegt wurden, die störten oder keine Freunde hatten, und als sie Sandra sah, hob sie hastig den Deckel und gab vor, mit Büchersortieren beschäftigt zu sein, eine Strategie, die mir vertraut war.
»Meine Mum sagt, wenn man das hat, was sie hat, kann man sich nicht richtig waschen, weil man allergisch gegen Seife ist«, sagte Sandra laut. Das Herumrutschen hinter Ruths Tisch nahm zu. Ich spürte, wie ich vor Mitleid und Scham rot wurde. Sandra blinzelte mir mit ihren blassen Wimpern zu. »Wenn du willst, kannst du beim Diktat bei mir abschreiben«, fügte sie hinzu, was in Wirklichkeit eine Aufforderung an mich war, ihr freien Blick auf meine Arbeit zu gewähren: Sie war in Rechtschreibung hoffnungslos schlecht - Gescheft und Febuar.
In der Pause, nach einem Test, in dem von der ganzen Klasse nur Sandra und ich die volle Punktzahl erreichten, ein Ergebnis, das uns einen strengen Blick von Mrs. Strevens einbrachte, rauschte Sandra hinaus auf den Spielplatz und inthronisierte sich auf der einzigen Bank des gesamten Grundstücks, nachdem sie die bisherige Platzinhaberin mit einem kühlen »Runter da, jetzt bin ich hier« vertrieben hatte, nur weil sie ein volles Jahr älter war. Ihr Gefolge, ich eingeschlossen, drückte sich in der Nähe herum. Durch die Fußballspiele der Jungs, die den gesamten Platz dominierten, wurden die Mädchen immer an den Rand gedrängt. Manchmal fanden auf einem Spielfeld insgesamt sieben verschiedene Matches statt, und sieben harte Tennisbälle schwirrten in Kopfhöhe umher. Ich sah, wie die arme Ruth Pike in einem zum Scheitern verurteilten Versuch, sich unserer Gruppe anzuschließen und gleichzeitig unsichtbar zu bleiben. um den Grenzzaun herumschlich. Hin und wieder bemerkte sie, dass sie beobachtet wurde, änderte ihren Kurs und ging wieder in die entgegengesetzte Richtung. Sie hielt eine Packung Kekse in der Hand. Wahrscheinlich hatte
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