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Seejungfrauen kuesst man nicht

Seejungfrauen kuesst man nicht

Titel: Seejungfrauen kuesst man nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
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ich in der Lage wäre, ein Eis bis nach Hause zu befördern, bevor es schmolz, als ich Vater am Ladentisch stehen sah. Ich wollte ihn schon ansprechen, denn sicher hätte er mir ein paar Süßigkeiten spendiert, aber ich bemerkte gerade noch rechtzeitig, wie der Zeitungshändler von seiner Stehleiter stieg und Vater ein riesiges Osterei in violetter Folie überreichte. Instinktiv ging ich hinter dem Zeitungsregal in die Knie, weil mir klar war, dass das Ei für mich sein musste, und dass ich mich, wenn ich das Geheimnis lüftete, schuldig machen würde, obwohl ich nicht wusste, wessen. Während ich dort hockte, hörte ich das Rattern der Ladenkasse und wie Vater sich bedankte, und dann, zu meiner Bestürzung, sah ich seine glänzenden schwarzen Slipper um die Ecke biegen und auf mich zukommen. Ich hielt den Kopf gesenkt, tat so, als sei ich in eine Kinderzeitschrift vertieft, und hielt für den Fall, dass er mich erkannte, den Atem an, aber nichts geschah.
    »Entschuldigung«, sagte Vater mit leerem Blick, streifte meinen Scheitel, als er sich vorbeiquetschte, und war zur Tür hinaus, bevor ich auch nur aufblicken konnte.
    Am nächsten Morgen, am Ostersonntag, wachte ich mit einem leicht unzufriedenen Gefühl auf und wusste den Grund nicht mehr. Dann fiel es mir wieder ein: Keine Überraschung, auf die man sich freuen konnte. Ich hatte mich ganz unabsichtlich um die Vorfreude gebracht, die man empfindet, wenn man sich einem verpackten Geschenk gegenübersieht: Man muss einfach enttäuscht werden, aber eine Sekunde lang triumphiert die Hoffnung. Doch als ich zum Frühstück hinunter kam, stellte ich fest, dass das Päckchen neben meiner Müslischüssel nicht im Entferntesten eiförmig war. Ich riss das Geschenkpapier ab und fand ein Schokoladenvogelnest mit mehreren knallbunten Zuckereiern und einem Marzipanküken darin. Mein Gesicht musste vor Verwirrung finster geworden sein.
    »Gefällt es dir nicht?«, fragte Mutter, verärgert über diese Undankbarkeit.
    »Oh doch, es ist süß«, sagte ich und riss mich zusammen, und um meine volle Zufriedenheit mit dem Geschenk unter Beweis zu stellen, reihte ich die Zuckereier neben meinem Teller auf und machte einen Riesenwirbel um das Marzipanküken.
    Ich habe nie auch nur die geringste Spur von diesem glitzernden, violetten Osterei wieder gesehen, und einige Zeit war mir diese Begebenheit absolut rätselhaft. Erst als ich ein wenig älter war, kam ich auf den Gedanken, dass Vater es möglicherweise für sich selbst gekauft haben konnte, da er gern Süßigkeiten aß und Mutter das Zeug nicht vertrug. Die Vorstellung, dass ein Erwachsener - mein Vater - vielleicht demselben harmlosen Vergnügen frönte wie ich, indem er sich heimlich mit Schokolade voll stopfte, die er mit niemandem teilen musste, war ein Schock für mich.

4
    Erst als ich in die Grundschule kam, wurde mein Status als Einzelkind zum Problem. Ich vermute, mir ist aufgefallen, dass andere Kinder und Charaktere in Büchern Geschwister hatten, aber wenn man klein ist, akzeptiert man seine Situation als normal, egal wie sie ist. Es kam mir nicht in den Sinn, dass ich irgendwie fehlerhaft war, bis Sandra Skeet, bei deren Bande ich mich am ersten Tag des Halbjahres nicht hatte einschmeicheln können, mich auf dem Spielplatz als »Einzel« beschimpfte.
    »Was meinst du damit?«, wollte ich wissen und errötete unter den feindseligen Blicken sechs achtjähriger Mädchen.
    »Du bist ein Einzelkind - du hast keine Geschwister. Das bedeutet, du wirst verwöhnt«, antwortete sie und hakte sich bei ihren Höflingen unter, um eine unüberwindbare Barriere aus blauem Gingan zu errichten.
    »Du bist ganz rot geworden«, war ihre Schlussbemerkung, als die karierte Mauer abdrehte und sich bereit machte, zu einem anderen Paria vorzurücken.
    Von da an fing mein Einzelkindsein an, mich zu beschäftigen: Ich kam langsam in das Alter, in dem es mir nicht mehr so wichtig erschien, meine Eltern ganz für mich zu haben. Ich wollte jemanden, mit dem ich spielen konnte, mit dem ich reden konnte, wenn das Licht aus war, mit dem ich am Kaffeetisch kichern konnte, aber insbesondere jemanden, den ich als Beschützer und Verbündeten anrufen konnte, wenn ich mich den Schultyrannen gegenübersah.
    In unserer Klasse gab es mehrere, die von Sandra und ihren Freundinnen dazu ausersehen waren, in die Mangel genommen zu werden. Bei mir reichte bereits mein Nachname aus, und mehrere andere Kinder, die das Pech hatten, fett oder schwach zu sein,

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