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Seejungfrauen kuesst man nicht

Seejungfrauen kuesst man nicht

Titel: Seejungfrauen kuesst man nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
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Konzentration bekam ich nicht eine einzige Silbe davon mit, was drinnen vor sich ging. Den Schulpreis hatte sie bestimmt nicht verliehen bekommen, denn als sie endlich herauskam, war ihr blasses Gesicht weißer denn je, abgesehen von ihren Augen, die vom Weinen rosa und verschwollen waren.
    Kurz vor dem Mittagessen steckte die Schulsekretärin den Kopf durch die Tür. »Ich fürchte, wir können deine Mutter immer noch nicht erreichen, Abigail. Gibt es einen Nachbarn, den wir anrufen könnten, oder fühlst du dich besser?«
    Ich fühlte mich inzwischen gar nicht mehr krank, und außerdem kratzte die Decke langsam unerträglich, deshalb beschloss ich, wieder in die Klasse zu gehen. Die Mittagsglocke läutete, als ich mich auf den Weg nach oben ins Klassenzimmer machte, um meine Sandwiches zu holen, wobei ich gegen die Flut von Körpern anschwimmen musste, die sich nach unten in den Speisesaal wälzte. Während der Pausen war der Zutritt zu den Klassenräumen verboten. Die einzige Ausnahme war die Aufsichtsschülerin, die am Ende der Stunde dableiben durfte, um die Tafel zu wischen und die Stühle gerade zu rücken. Diese Pflicht, die sehr begehrt war, war in dieser Woche zufällig an Ruth Pike gefallen, die immer glücklich war, wenn sie die gesamte einstündige Mittagspause damit verbringen konnte, die Möbel umzuräumen, die Scheren und Bleistifte in ihre Ständer zu stecken und jedes Körnchen Kreidestaub von der Tafel zu wischen, anstatt sich der Brutalität auf dem Spielplatz auszusetzen.
    Als ich oben auf der Treppe ankam, hörte ich einen Tumult, der aus dem Klassenzimmer kam. Durch das Glas in der geschlossenen Tür sah ich Ruth Pike auf dem Boden liegen, umgeben von einer Mädchenmeute, deren Aufgabe es war, sie festzuhalten. Auf Ruths Bauch saß Sandra Skeet, die gerade dabei war, ihr mit dem Tafelschwamm auf den Kopf, ins Gesicht und auf die Arme zu schlagen, wobei sie mit jedem Schlag schmutzige Staubwolken aufwirbelte. Ruths Haare waren von dem Puder grau, und ihre wunde Haut war aufgesprungen und von Ausschlag bedeckt. Sie gab seltsame Erstickungsgeräusche von sich.
    »Hör auf!«, schrie ich - meine Stimme kam nur als ein Quieksen hervor als ich die Tür aufstieß, doch Sandra sah mich nur über die Schulter an und machte weiter. Eine Sekunde lang stand ich dort, hilflos, so als hätte ich meine Pflicht getan und könnte wirklich nichts mehr tun, doch dann, aus dem Nichts, spürte ich einen gewaltigen Zorn in mir aufsteigen, wie kochende Milch, und bevor ich mich stoppen konnte, war ich zum Scherenständer marschiert und hatte mir eine gegriffen. Wäre es keine Sicherheitsschere mit abgerundeten Spitzen gewesen, wäre sicherlich Blut geflossen, doch so packte ich mir nur einen von Sandras dünnen blonden Zöpfen und schnitt ihn bis auf ungefähr zwei Zentimeter ab. Es war kein sauberer Schnitt, aber Sandra war durch meinen Angriff so benommen, dass sie erst nach dem ersten Schnipp begriff, was da geschah, und zu diesem Zeitpunkt hatte ich ihre Haare schon so fest im Griff, dass ihr alles Zappeln und Schreien überhaupt nichts nützte. Als Mrs. Strevens durch die Tür stürzte und die Verschwörer zerstreute, stand ich immer noch über ihr, Rattenschwänzchen in der Hand, während Ruth zuckend und nach Luft schnappend auf dem Boden lag und sich unter ihrem Rock eine kleine Pfütze ausbreitete.
    Ich sah weder Sandra noch Ruth wieder. Sandra kam nach diesem Vorfall nicht mehr in die Schule - ein Jammer, weil ich mich darauf gefreut hatte, zu sehen, wie sie ihren einseitigen Haarschnitt kaschieren würde -, und die Gerüchteküche bestätigte schnell, dass man sie der Schule verwiesen hatte. Ruth wurde in einem Krankenwagen weggebracht: Die Kombination aus Angst und all dem Kreidestaub, den sie inhaliert hatte, hatte bei ihr einen Asthmaanfall ausgelöst. Trotz der Versicherungen der Schulleiterin, dass die Hauptschuldige für immer vom Schulbesuch ausgeschlossen war, hatte Mrs. Pike entschieden, dass es für Ruth besser wäre, wenn sie ihr Glück woanders versuchte. Ich bekam einen strengen Verweis für die Amputation des Rattenschwänzchens, das ich während des Tumults noch in der Hand gehalten und schließlich ganz unten in meinem Tisch verstaut hatte, wo es zusammengerollt lag wie eine blutarme Viper. Dank meines bisher makellosen Rufs und der Tatsache, dass ich zu Ruths Verteidigung gehandelt hatte, blieb ich von einem Schulverweis verschont. Um die Direktorin zufrieden zu stellen, fühlten meine

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