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Seejungfrauen kuesst man nicht

Seejungfrauen kuesst man nicht

Titel: Seejungfrauen kuesst man nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
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ihre Mutter ihr das verzweifelt als Methode empfohlen, um Freunde zu gewinnen, oder vielleicht hatte sie Ruth sogar damit bestochen, um sie in die Schule zu kriegen. Auch diese Taktik erkannte ich wieder. Als es klingelte und wir wieder über den Schulhof in die Klasse trotteten, fand ich Ruth an meiner Seite. »Möchtest du einen Keks?«, fragte sie und hielt mir einen hin. Es war ein verlockender Keks, mit rosafarbenem Zuckerguss und Marmelade in der Mitte, für mich ein Luxus, da ich an Mutters sandige Haferkekse gewöhnt war, und ich hatte ihn gerade genommen und ein Lächeln mit ihr getauscht, als Sandra plötzlich auftauchte, mich am anderen Arm packte und kreischte: »Iss das nicht!«
    »Wieso nicht?«, stammelte ich und blickte von Sandras weißem Gesicht in Ruths schmerzerfülltes.
    »Weil du dann kriegst, was sie hat - iih!«
    Instinktiv versteckte Ruth ihre wunden Hände hinter dem Rücken, sagte jedoch trotzig: »Nein, tut sie nicht. Es ist nicht ansteckend.«
    »Lass ihn fallen«, drängte Sandra mich mit echter Besorgnis in der Stimme, und ich Feigling tat, was sie mir sagte, und sah zu, wie sie den Keks mit dem Absatz auf dem Asphalt zermalmte. Als sie mich ins Gebäude schleifte, sah ich, wie Ruth mich mit Tränen in den Augen völlig ungläubig und vorwurfsvoll anschaute, und ich fühlte mich ebenso klein, abscheulich und verachtet wie der kleinste Kekskrümel unter Sandras Schuh.
    »Warum habe ich keine Geschwister?«, fragte ich meine Eltern an jenem Abend beim Essen, als sei das die Ursache all meiner Probleme.
    Vater blickte nervös von seinen Lammkotelettes auf und gab die Frage an Mutter weiter.
    »Tja«, sagte sie unbehaglich. »Kinder zu bekommen ist nicht ganz so einfach, weißt du. Sie werden nicht fix und fertig an der Tür abgeliefert. Jedenfalls«, sagte sie schnell, damit mein Verhör keine Wende in die geburtsmedizinische Richtung nahm, »kann man sich das nicht immer aussuchen: Die Dinge kommen nicht immer unbedingt so, wie man sie geplant hat.« Und hier warf sie meinem Vater einen Blick zu, der nicht gerade freundlich war. Eine andere Erklärung bekam ich nicht.
    »Wenn ich eine Schwester hätte, wäre mir Sandra egal. Wir würden einfach zusammen rumlaufen und uns unterhalten«, sagte ich.
    »Weißt du, Schätzchen, ich glaube, es ist Zeit, dass du dieser Sandra die Stirn bietest«, sagte Vater milde.
    »Ich glaube, es ist Zeit, dass ich mit der Schulleiterin spreche«, sagte Mutter leicht schroff.
    »Nein, nein«, beharrte ich und schlug die Hände vors Gesicht. »Wenn du das tust, wird Sandra erst recht hinter mir her sein.«
    Die Wahrheit dieses Grundsatzes erwies sich ein paar Wochen später.
    Ich war ins Krankenzimmer geschickt worden, um mich hinzulegen, weil mir in der Sportstunde schwindlig geworden war. Es war einer der Tage, an denen Mutter arbeitete (sie war Sprechstundenhilfe bei einem Arzt, Teilzeit), und die Schulsekretärin hatte Probleme, sie zu erreichen. Deshalb lag ich auf dem Krankenbett, einem echten ehemaligen Krankenhausmodell mit verstellbarer Rückenlehne und kratzigen grauen Decken. Das Krankenzimmer war im selben Flur wie das Büro der Schulleiterin. Von meinem Aussichtspunkt konnte ich durch die halb geöffnete Tür das Kommen und Gehen mehrerer Bösewichte beobachten und das Seufzen und Zappeln hören, das von dem Holzstuhl kam, auf dem die Missetäter wie Gefangene in der Todeszelle auf ihre Bestrafung warten mussten. Der erste Besucher, der durch die Tür ging, war Peter Apps, der Tunichtgut der Schule, ein Rückfalltäter im Abschlussjahr, der regelmäßig mit dem Stock geschlagen wurde. Die Tür öffnete sich quietschend, um ihn hereinzulassen, schnappte wieder zu, und dann war es ein oder zwei Minuten lang still, bevor er wieder hinausgeworfen wurde und, sich den Hintern reibend, über den Korridor trottete.
    Die Nächsten, die durch mein Gesichtsfeld liefen, waren Ruth Pike und ihre Mutter. Ihre Besprechung mit der Direktorin dauerte wenigstens eine Viertelstunde und endete auf dem Flur, mit viel Händeschütteln zwischen den beiden Frauen, Entschuldigungen auf der einen Seite und Dankeschöns auf der anderen. Fünf Minuten später hörte ich vertraute Schritte auf den Fliesen; das Schlipp-Schlapp von Sandras Sandalen hätte ich überall wieder erkannt. Sie saß auf dem Stuhl vor dem Büro der Schulleiterin, hielt sich mit beiden Händen am Sitz fest und baumelte mit den Beinen. Nach einiger Zeit wurde sie hineingelassen, doch trotz aller

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