Seejungfrauen kuesst man nicht
aber ich sagte trotzdem ja.
»Nun ...« Sie holte tief Luft. »Als du selbst noch ein Baby warst, hattest du ein Schwesterchen, aber es ist gestorben.«
»War das das Baby auf dem Bild?«
»Ja.«
»Warum ist es gestorben?«
»Hm ...« Sie zögerte einen Moment und blickte hinauf zum Himmel, als läge die Antwort vielleicht dort, bevor sie sagte: »Das weiß niemand. So was kommt schon mal vor.«
»Wie alt war ich da?«
»Viel zu klein, um dich an irgendetwas zu erinnern. Aber deine Mummy und dein Daddy erinnern sich natürlich, und deshalb darfst du den Namen Birdie nie wieder erwähnen oder nach ihr fragen. Verstehst du?«
»Wieso haben sie mir nie davon erzählt?«
»Weil du es nicht zu wissen brauchtest. Manchmal ist es leichter, über etwas hinwegzukommen, wenn man nicht darüber spricht oder zu viel darüber nachdenkt. Und sie wollten das tun, was für dich am besten war. Also sei einfach weiter die Abigail, die wir alle so sehr lieben, und vergiss das alles. Versprichst du mir das?«
Ich nickte mit trockenen Augen. Darüber gab es keine Diskussion. Doch ich vergaß es nicht; wie hätte ich das gekonnt? Im Zeitraum von ein paar Minuten hatte ich eine Schwester gewonnen und wieder verloren, die Freundin und Gefährtin, von der ich so lange geträumt hatte, auf die ‚ meine Etagenbetten, mein Tennis-Set und mein Schrank voller Spiele vergeblich warteten; die in meine Kleider hätte hineinwachsen sollen; die mich nie Cello spielen hören oder mit mir zur Schule gehen würde oder vor den unverschließbaren Mädchenklos mit einem Fuß unter der Tür warten würde oder die Geheimnisse für sich behalten würde, die ich eines Tages sicher haben würde. Ich habe oft an sie gedacht; jeden Abend, wenn ich im oberen Bett lag, stellte ich mir vor, wie sie aus dem unteren Bett nach oben greifen würde, um meine Hand zu halten. An all den regnerischen Wochenenden, wenn Mutter Kopfschmerzen hatte oder Vater hinter geschlossener Tür in seinem Arbeitszimmer arbeitete, und die Stille im Haus in meinen Ohren langsam zu einem Tosen wurde, dachte ich an sie. Und immer, wenn ich meine Mutter seufzen hörte, und ich wusste, dass sie sich erinnerte, dann dachte ich an dich, Birdie. Doch ich hielt mein Versprechen und fragte nie nach dir oder erwähnte deinen Namen, oder hörte, wie man ihn erwähnte, bis zu jenem Abend neun Jahre später, als mein Leben als Erwachsene wirklich begann.
8
Im Sommer 1977 ging ich mit einer Freundin, meinem »Stufe Zwei«-Cello-Zeugnis und zwei Dutzend selbst gemachten Eierwärmern von St. Bede‘s ab. Die Freundin hieß Karen Smart und war das einzige andere Mädchen in der Klasse, das die Zulassungsprüfung zur höheren Schule bestanden hatte. Das war der Sand, auf dem unsere Freundschaft gebaut war. Während wir zur Grammar School für Mädchen geschleust wurden, um eine gute Ausbildung zu erhalten, waren unsere Klassenkameradinnen dazu ausersehen, an der örtlichen Highschool bereits im zarten Alter ins Rauchen und in Faustkämpfe eingeführt zu werden und sich von Sandras Schwester den Kopf in die Toilette drücken zu lassen. So lautete jedenfalls die herrschende Dämonologie.
Ich lernte Karen erst im letzten Halbjahr kennen, als mir bewusst wurde, dass wir zusammen zur Grammar School gehen würden. Sie wohnte ein paar Straßen von uns entfernt, und wir fingen an, uns gegenseitig zum Spielen zu besuchen. Karen war eine Pferdenärrin: Ihre Zimmerwände waren mit Ponybildern tapeziert; ihren Spiegel zierte ein Messinggeschirr an Lederriemen, und sie hatte sich eine beträchtliche Rosettensammlung zugelegt. Das war doppelt beeindruckend, weil sie nicht einmal ein Pferd besaß. Ich war eigentlich gar nicht so scharf auf Pferde, aber ich spürte, dass dies ein Defizit meinerseits war, und tat mein Bestes, um es zu verbergen. In ihrem Garten stand eine hohe Leichtsteinmauer, die den schönen Teil des Hauses mit seinem gestreiften Rasen und unkrautlosen Blumenbeeten von dem heruntergekommenen Spielplatz dahinter abschirmte. Über diese Mauer warfen wir zusammengelegte Decken als Sättel, funktionierten ein paar Ledergürtel ihres Vaters zu Zügeln und Steigbügeln um und verbrachten Stunden damit, auf der Mauer zu reiten und das Auf- und Absteigen zu üben. Manchmal baute Karen mit Besenstielen und Gartengeräten ein paar Hindernisse auf, die sie auf Backsteinen, Schubkarren und Gießkannen ausbalancierte, und wir galoppierten, ohne Gaul, um den Kurs herum, stoppten unsere Zeiten und zählten
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