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Seejungfrauen kuesst man nicht

Seejungfrauen kuesst man nicht

Titel: Seejungfrauen kuesst man nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
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mit blauer Tinte in einer fremden Handschrift die Worte: Birdie, 18 Tage alt.

7
    Am nächsten Morgen half ich meiner Mutter gerade dabei, den Frühstückstisch zu decken, als ich das Foto zur Sprache brachte. Wir machten alles, wie es sich gehört, weil Granny da war: Toast im Ständer, Butter in der Schale, Zucker in der Dose. Vater versteckte sich hinter der Times und nahm unsere Bemühungen gar nicht wahr.
    Granny machte sich in der Küche zu schaffen, weil sie ihr Besteck suchte. (Sie brachte immer ihr eigenes Silberbesteck von zu Hause mit, weil unser rostfreies Stahl komisch schmeckte, wie sie sagte.) Ich teilte die Frühstückseier aus und stülpte jedem einen handbestickten Filzwärmer über. Im Handarbeitsunterricht wurden wir angehalten, solche Sachen anzufertigen, weil sie leicht waren und man dafür nicht allzu viel Material brauchte. Ich produzierte die Dinger in solchem Tempo, dass Mutter schon eine ganze Schublade voll hatte; wenn sie sich je in einer Situation wieder finden würde, in der sie vierundzwanzig gekochte Eier gleichzeitig einzeln warm halten müsste, wäre sie gut vorbereitet. Genau in dem Moment, als Mutter ein Tablett hereinbrachte, das mit Müslischüsseln, Milchkrug und Teetassen beladen war, muss ich unbewusst eine Verbindung zwischen Eiern und Vögeln (Birdie = Vögelchen) hergestellt haben, denn ich sagte ohne jede Einleitung: »Wer ist Birdie?«
    Krachbumm fiel das Tablett auf den .Boden, während Mutter ein »Oh« ausstieß, das in der Luft zerplatzte wie eine Seifenblase. Sie fiel auf die Knie und fing an, mit ihrer Schürze die Milch aufzuwischen und Scherben aus blauweißem Geschirr zu einem zerklüfteten Hügel zusammenzuscharren. Weiß im Gesicht blickte mein Vater von seiner Zeitung auf.
    »Wie kommst du denn darauf?«, sagte Mutter mit gesenktem Kopf undeutlich vom Boden. Vater schlug die Hände vors Gesicht und sagte: »Oh Gott.« Ich fing an zu weinen.
    »Was hast du mit meiner Serviette angestellt, Monica?«, wollte Granny wissen, die hereinkam und abrupt stehen blieb, als sie die Szene in sich aufnahm.
    »Ich hab n-n-nur ein Bild in Daddys Brieftasche gefunden. Er hat gesagt, ich könnte darin nach Kleingeld suchen. Ich wollte nichts Böses tun«, schluchzte ich, während Mutter mühevoll aufstand und blind aus dem Zimmer stürzte. »Oh nein. Oh Gott«, sagte Vater und ging ihr nach, wobei er unachtsam durch die zerbrochene Keramik knirschte und eine Spur milchiger Fußabdrücke hinterließ. Auf der Treppe waren stampfende Schritte zu hören und dann erregte Stimmen.
    »Liebling, bitte, jetzt hast du Abigail aufgeregt.«
    »Ich habe sie aufgeregt!« Und dann mehr Weinen, als die Schlafzimmertür zuschnappte.
    »Hör mal, Schätzchen«, sagte Granny, legte mir eine Hand auf die Schulter und schüttelte mich sanft, so als versuchte sie, mich zu wecken. »Worum geht es denn?«
    Durch eine Schicht aus Schleim und Tränen stieß ich hervor, was ich gesagt hatte. Als ich Birdie sagte, entfuhr ihr ein »Oje. Oje«, und sie setzte sich ziemlich schwerfällig neben mich, wobei sie sich auf meine Schulter stützte. Sie zog ein riesiges Herrentaschentuch hervor, das mit den Initialen meines verstorbenen Großvaters bestickt war, und wischte mir das Gesicht ab. Dann legte sie den Arm um mich und drückte mich, eine völlig untypische Geste. »Wollen wir Mummy und Daddy einen Augenblick allein lassen und in den Garten gehen, ja?«, redete sie mir gut zu. Ich nickte und gab mir große Mühe, meine Schluchzer zu einem Wimmern zu reduzieren, während sie mich durch die Verandatür hinausführte. Der Rasen war noch taunass, und unsere Schuhe hinterließen grüne Spuren im silbernen Gras. Nach ein paar Runden um den Garten setzten wir uns auf die Bank zwischen den Rosenbeeten: Die ersten Blätter kamen gerade hervor. Granny zeichnete ein paar Minuten lang mit dem Finger die Umrisse ihrer Lippen nach. Sie schien mich vergessen zu haben. »Was tust du da?«, fragte ich.
    »Ich denke nach«, sagte sie. »Wirst du ganz lieb sein, wenn ich dir erzähle, was ich dir jetzt erzählen werde? Und ganz tapfer?«
    »Mmm-mm«, sagte ich und biss mir fest auf die Unterlippe, um mit dem Weinen aufzuhören.
    »Natürlich ist das, was ich dir jetzt erzähle, ein Geheimnis. Und das bedeutet, dass du nie irgendjemandem ein Sterbenswörtchen davon verraten darfst. Du hast doch sicher schon früher Geheimnisse gehabt.«
    In jener Phase war meine Erfahrung mit dieser Freundschaftswährung noch sehr begrenzt,

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